Sie ging dann in Richtung Haupthaus. Es war still. Vollkommen still. Sie hatte plötzlich keine Angst mehr. Ihr handy läutete. Sie holte es aus der Tasche. Es war Ginos Mutter. Sie nahm das Gespräch an. Was es gäbe. Ob es Gino gutginge. Also wie es dem Ingo ginge. Natürlich. Ja, der wolle mit ihr sprechen. Sie gäbe das Telefon weiter. Sie könnten so lange reden, wie sie wollten. Sie habe einen Handyvertrag, da könne man 100 Stunden im Monat reden. Sie ginge etwas essen. Dann hörte sie schon Gino.»What’s up. «fragte er. Das wolle er nicht wissen, sagte sie. Wie es ihm ginge. Beschissen, sagte er, und wo sei sie denn. Das wolle er auch nicht wissen. Sie wäre im compound. Aber es gäbe die wunderbarste Nachricht. Er könne ja raten, was es sei. Sie habe etwas wiedergefunden. Ob sie die Wimperntusche gefunden hätte, die sie seit Monaten nicht mehr verwende und ohne die sie ein Katzengesicht hätte. Sie musste lachen. Gino solle nicht so eitel sein. Nein. Es habe überhaupt nichts mit Aussehen zu tun. Wo sie wirklich sei. Sie stiege gerade die Stufen zum oberen Stockwerk im compound hinauf. Sie käme sich vor wie in einem Horrorfilm. Über ihr hinge dieses Riesenbild. Laokoon. Er wisse doch. Dieser trojanische Priester, der mit seiner Frau im Tempel gefickt hatte. Ob das nicht die Geschichte mit den Schlangen sei, fragte Gino. Ja, sagte sie. Die armen Söhne wären in die Erstickung durch die Schlangen mit hineingezogen worden. Weil der Herr Papa sich nichts geschissen hätte. Im Tempel von Apollo. Das wäre doch immer das Schicksal der armen Söhne, sagte Gino. Und der armen Töchter. Die dürften dann heulen. Nachher. Wenn die Eltern schon wirklich alles kaputtgemacht hatten.
Sie stieg hinauf. Schaute von unten auf das Bild. Im Licht des Sommernachmittags. Des Spätsommernachmittags. Es war zu hell. Die Staubränder deutlich abgehoben. Da, wo die Farbe dicker aufgetragen, Staubränder. Sie stieg weiter. Die Füße der nackten Männer riesengroß über ihr. Sie nahm den rechten Stiegenaufgang. Aber das hätte doch etwas mit dem Trojanischen Pferd zu tun. Gino redete langsam. Er schaue gleich auf Wikipedia nach. Sie blieb stehen. Richtig, sagte sie. Und war die Tötung von Laokoon und seiner Söhne durch die Schlangen nicht der Schmäh gewesen, der die Trojaner überzeugte, das Trojanische Pferd in die Stadt zu holen. Ja, führte Gino weiter. Der war der Einzige, der die Gefahr erkannt hatte. Aber diese Schlampe von Pallas Athene hätte dann die Schlangen geschickt und alles umgedreht. Was man auch von einer Frau halten solle, die aus dem Vater so direkt entsprungen sei, fragte sie. Woher die genau herausgesprungen sei, überlegte Gino. Ob er das nachschauen solle. War das der Kopf gewesen oder doch der Oberschenkel vom Zeus. Die Hüfte. Dem Laokoon. Dem wäre es gegangen wie ihm.»So wie ich. «sagte er dann. Verträumt.»Ich weiß das auch immer gleich, wenn etwas schiefgehen wird. Aber niemand glaubt mir. Du doch auch nicht. «Das müsse sie zugeben, antwortete sie. Sie war stehen geblieben. Sie stieg weiter. Kam im oberen Stock an. Die Doppeltür zum Konferenzzimmer angelehnt. Was mache sie, wollte Gino wissen. Sie solle da hinaus. Raus, sagte er. Er könne doch hören, wie still es da war. Er würde da keinen Schritt machen. Das wäre eben er, sagte sie. Sie ginge jetzt gerade in das Konferenzzimmer.»Ich öffne die Tür. Dazu schiebe ich den rechten Türflügel auf und betrete den Konferenzraum, in dem. «Sie hielt inne. Gino seufzte.»Und was hat unsere Reporterin zu reporten. «Er leierte gelangweilt. Sie solle da weggehen, sagte er dann wieder. Ernsthaft.»Ja. Das sollte ich. «antwortete sie.
Sie ließ den Arm mit dem handy sinken. Sie stand an der Tür. Auf dem Konferenztisch. Gregory lag lang ausgestreckt. Oben quer. Er lag auf den Plätzen des Vorsitzes. Es war heiß im Raum. Fliegen. Nur zwei. Oder drei. Aber sie waren laut zu hören. Ein sehr lebendiges Gebrumme. Kreisend. Über ihm. Dem. Dem das. Diesem Ding. Da. Sie war starr. Aus dem handy in ihrer Hand hörte sie Gino. Was denn los sei. Amy. Amy. Er rief nach ihr. Sie hob das handy. Fragte» Gino?«.»Was ist los!«Gino schrie sie an. Sie schaute auf das Ding auf dem Tisch. Sie konnte nichts sagen. Gino zischte sie an. Sie solle etwas sagen. Irgendetwas. Er wurde ganz ruhig. Sprach mit ihr langsam. Überdeutlich. Er könne sie atmen hören. Das sei doch sie. Ja? Das sei doch sie. Amy. Das sei doch sie, die da atme. Sie war einen Schritt zurückgetreten. Lehnte gegen den Türrahmen. Sie schwang sich nach links. Aus dem Raum. Lehnte gegen die Wand. Ließ sich zu Boden rutschen.»Houston. Wir haben ein Problem. «Sie flüsterte. Der Steinboden kalt. Die Wand im Rücken kalt. Innen eisig heiß.
Was los sei. Gino schrie vor Verzweiflung. Sie müsse reden. Sie müsse mit ihm reden. Er läge in einem Krankenbett. Er wäre noch in Narkose. Er dürfe nicht so gequält werden. Verstünde sie ihn. Er sei eine kranke Person. Er habe eine freundliche Behandlung verdient. Amy. Sie sei doch ein freundlicher Mensch. Meistens. Sie würde ihn doch nicht absichtlich. Er wurde wieder lustiger. Aha, sagte er. Sie wolle ihn unterhalten. Dann solle sie fortfahren.»Fahren Sie fort. «sagte er.»Fahren Sie nur fort mit Ihrem Unterhaltungsprogramm auf Bayern 21. «Er sprach weiter.»Gino. «flüsterte sie.»Er ist tot. Glaube ich. «Gino hörte zu reden auf. Blieb still.»Schatzl. «sagte er nach langem.»Was ist denn los?«Er klang weinerlich. Verzweifelt.»Ich kann es dir nicht sagen. Nicht wirklich. Er liegt auf dem Konferenztisch. Die Fliegen sind schon da. Das heißt. Ich weiß nicht. Nichts Gutes. Sicherlich. Bist du noch da?«»Wer?«, fragte Gino.»Wer liegt auf einem Konferenztisch mit den Fliegen.«»Er!«, sagte sie.»Gregory. «Sie saß auf dem Boden. Vorgebeugt. Das Telefon ans Ohr gepresst. Sie hörte Gino atmen. Hörte ihm zu.»Nein. «Gino seufzte dieses Nein.»Doch. «sagte sie. Sie erfände das doch alles. Sie antwortete nicht. Nein. Gut. Sie erfände das nicht. Das hätte er sich gleich gedacht. Was sie nun machen werde. Ob er wirklich tot wäre, fragte Gino.»Du weißt, was das heißt. «sagte sie. Sie sagte es mehr zu sich.»Es ist dir klar. Das ist die Person, die mich. Das zumindest. Das wissen wir ja. Ganz genau wissen wir das. «Gino seufzte. Sie solle da weg.»Mir ist so schlecht. Ich kann mich nicht bewegen. Ich kann nicht einmal richtig reden. «Sie solle da weg. Sie solle aufstehen oder kriechen. Sie solle nur da weg. Gino schrie sie an.»Dieser Mann. «Sie redete leise. Murmelte in das Telefon. Sie schaute auf das Bild an der Wand gegenüber. Sie war auf gleicher Höhe mit den Köpfen. Die schmerzverzerrten Gesichter. Der alte Mann. Schon fast tot. Der eine Sohn im Kampf mit dem Ersticken. Der andere. Er sah auf den Vater. Verwundert. Vorwurfsvoll.»Dieser Mann«, sagte sie.»Der hat zugesehen. Der hat alles gewusst. Der hat mich das alles leiden lassen. Der hat zugesehen. Der hat mich lernen lassen, wie man Schmerzen optimiert, und hat. Zugefügt. Er hat. Benutzt. Er hat. Ein Werkzeug. Du glaubst doch nicht, dass ich da. Dass man da einfach weggehen kann. Ich möchte. Ich könnte. Ich muss. Da muss man. Oh. Ich wollte, ich könnte ihn zerreißen. Verstehst du. Seine Leiche zerreißen und die einzelnen Teile in die Obstbäume hier. Hier gibt es Obstbaumhaine. Die sind so idyllisch. Da könnte Homer 5 Stanzen draus machen. Und im Frühling. Im Frühling hängen dann nur mehr Knochen in den Bäumen. Es gibt viele Raubvögel hier. Die fressen so etwas. Die. «Sie konnte nicht weiter. Sie erstickte an ihrem Reden. Die Brust. Vorne. Ein steinerner Panzer. Verschloss alles. Machte den Kopf hohl. Sie hörte sich den Atem aufziehen. Pfeifend. Dünn. Zu schnell. Sie hörte nichts mehr. Konnte nichts hören. Das handy in der Hand. Die Hand. Sie war zur Seite gerutscht. Das handy auf dem Boden. Sie zog die Beine an. Umarmte ihre Knie. Legte ihren Kopf auf die Knie. Dunkel. Ihre eigene Wärme. Der Geruch von ihr. Sie wollte nicht ohnmächtig werden. Sie musste sich wieder aufsetzen. Den Kopf nach hinten gegen die Wand. Schlucken. Sie musste gegen das Ohnmächtigwerden schlucken. Ihr Mund trocken. Sie bewegte die Kiefer wie zum Kauen. Pumpte Speichel in die Mundhöhle. Schluckte den Speichel. Machte Kaubewegungen. Blut in den Kopf. Sie wusste gar nicht, woran er. Blut in den Kopf, dachte sie. In den Kopf. Nicht aus dem Kopf. In den Kopf. Das Atmen. Tief in den Bauch. Alles tief in den Bauch. Dieser Mann. Mit ihr. Hatte. Sich. Der Ekel ließ sie die Luft besonders tief aufziehen. Ekel. Aber keine Erinnerung. Nichts erinnerte sich an diese Person. Nur der DNA-Test. Sie wusste nicht einmal, ob sie nicht mitgemacht hatte. Es konnte sein, dass sie. Betrunken, wie sie gewesen sein musste. Und jetzt. Er war nicht mehr da. Er war. Geflohen. Verjagt. Vertrieben. Der Täter. Entkommen.