«Ich fahre durch ein breites Tal. Es gibt keine Häuser. Ich bin ganz allein. Jetzt fahre ich über eine Brücke und dann den Hügel hinauf.«
«Kandidatin Amy. «Gino machte Heidi Klum nach.»Well done. «flüsterte er ihr ins Ohr.»Du bist meine Jana. Und weißt du, wie lieblich ich lächle.«»You bet. My Heidi. «sagte sie. Er werde ihr das Märchen von Hänsel und Gretel fertigerzählen. Er habe jetzt den laptop offen, und er läse ihr die Wikipedia-Fassung vor. Wenn er einschliefe, dann wäre das keine Unhöflichkeit. Mehr könne er jetzt zu ihrer Begleitung nicht tun. Gino begann wieder.»Nun ward dem armen Hänsel das beste Essen gekocht, aber Gretel bekam nichts als Krebsschalen. Jeden Morgen schlich die Alte zu dem Ställchen und rief: ›Hänsel, streck deine Finger heraus, damit ich fühle, ob du bald fett bist.‹ Hänsel streckte ihr aber ein Knöchlein heraus, und die Alte, die trübe Augen hatte, konnte es nicht sehen und meinte, es wären Hänsels Finger, und verwunderte sich, dass er gar nicht fett werden wollte.
Als vier Wochen herum waren und Hänsel immer mager blieb, da überkam sie die Ungeduld, und sie wollte nicht länger warten. ›Heda, Gretel‹, rief sie dem Mädchen zu, ›sei flink und trag Wasser! Hänsel mag fett oder mager sein, morgen will ich ihn schlachten und kochen.‹ Ach, wie jammerte das arme Schwesterchen, als es das Wasser tragen musste, und wie flossen ihm die Tränen über die Backen herunter! ›Lieber Gott, hilf uns doch‹, rief sie aus, ›hätten uns nur die wilden Tiere im Wald gefressen, so wären wir doch zusammen gestorben!‹ ›Spar nur dein Geplärre‹, sagte die Alte, ›es hilft dir alles nichts.‹
Frühmorgens musste Gretel heraus, den Kessel mit Wasser aufhängen und Feuer anzünden. ›Erst wollen wir backen‹, sagte die Alte, ›ich habe den Backofen schon eingeheizt und den Teig geknetet.‹ Sie stieß das arme Gretel hinaus zu dem Backofen, aus dem die Feuerflammen schon herausschlugen. ›Kriech hinein‹, sagte die Hexe, ›und sieh zu, ob recht eingeheizt ist, damit wir das Brot hineinschieben können.‹ Und wenn Gretel darin war, wollte sie den Ofen zumachen, und Gretel sollte darin braten, und dann wollte sie ’s aufessen. Aber Gretel merkte, was sie im Sinn hatte, und sprach: ›Ich weiß nicht, wie ich’s machen soll; wie komm ich da hinein?‹«
Ginos Stimme war immer leiser geworden. Lange Pausen. Sie horchte. Er schlief. Sie war wieder in Deutschland. Auf dem Weg zur Bundesstraße B20. Sie legte das handy auf den Beifahrersitz. Die Windstopperjacke. Sie war so glücklich darüber, die wiederzuhaben. Sie musste lachen. Gerettet, dachte sie. Gerettet. Die Windstopperjacke gerettet. Sie fuhr. Sorgfältig und umsichtig. Nach Schockerlebnissen war es besonders wichtig, Sorgfalt und Umsicht zu bewahren und weder sich noch andere zu gefährden.»Care and attention. «sagte sie vor sich hin. Sie lächelte. Care and attention.
Über Marlene Streeruwitz
Marlene Streeruwitz, in Baden bei Wien geboren, studierte Slawistik und Kunstgeschichte und begann als Regisseurin und Autorin von Theaterstücken und Hörspielen. Für ihre Romane erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt den Droste-Preis und den Peter-Rosegger-Literaturpreis. Ihr Werk ist lieferbar im S. Fischer und im Fischer Taschenbuch Verlag. Zuletzt erschienen die Erzählungen ›Das wird mir alles nicht passieren… Wie bleibe ich FeministIn.‹.
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Impressum
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Coverabbildung: Patrick Frischknecht/Still Pictures
Weitere Texte und Hintergründe zu diesem Roman unter www.marlenestreeruwitz.at
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
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ISBN 978-3-10-401386-2