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Er fand eine Anstellung bei einem Schuster und begann – wie Ibn al-Athir –, all das, was er sah und hörte, für die Nachwelt aufzuzeichnen. Er zeigte kein Interesse daran, sich einer Religionsgemeinschaft anzuschließen, und niemand drängte ihn dazu.

Ihm ist gleichgültig, ob das Jahr, in dem wir leben, das 1099. oder das 4859. ist oder ob das Jahr 492 zu Ende geht. Dem Kopten ist nur der gegenwärtige Augenblick wichtig. Er glaubt an ihn und an etwas, das er Moira nennt – die göttliche Kraft, welche für ein einziges Gesetz steht, das niemals übertreten werden darf, da sonst die Welt enden wird.

Neben dem Kopten saßen die Oberhäupter der drei Religionen, die in Jerusalem zu Hause sind. Bei dem Gespräch war keiner der weltlichen Machthaber zugegen – sie waren mit den letzten Vorbereitungen für den Widerstand beschäftigt, den wir jedoch für vollkommen sinnlos halten.

»Vor vielen Jahrhunderten wurde auf diesem Platz ein Mann gerichtet und verurteilt«, begann der Grieche. »Auf der Straße, die dort nach rechts führt, kam er an einer Gruppe von Frauen vorbei, als er seinem Tod entgegenging. Als er sah, wie sie weinten, sagte er: ›Weinet nicht um mich, weint um Jerusalem. Für dich, Jerusalem, kommt eine Zeit, da werden deine Feinde einen Wall um dich bauen; sie werden dich belagern und dich von allen Seiten bedrängen. Sie werden dich und deine Bewohner niederwerfen und in der ganzen Stadt keinen Stein mehr auf dem anderen lassen.‹ Er prophezeite, was jetzt geschieht. Von morgen an wird, was vorher Harmonie war, zu Zwietracht. Was Freude war, wird durch Trauer ersetzt. An die Stelle des Friedens wird ein Krieg treten, der sich bis in eine so ferne Zukunft hinziehen wird, dass wir sein Ende nicht einmal träumen können.«

Niemand sagte etwas, denn keiner von uns wusste genau, weshalb er dort war. Würden wir uns etwa noch eine Predigt über diese Eindringlinge anhören müssen, die sich selber »Kreuzritter« nennen?

Der Kopte genoss die Verwirrung, die sich unserer bemächtigt hatte. Und nach einem langen Schweigen erklärte er:

»Sie können die Stadt zerstören, aber sie können nicht all das vernichten, was uns die Stadt gelehrt hat. Daher darf dieses Wissen nicht das Schicksal unserer Mauern, Häuser und Straßen erleiden.

Aber was für ein Wissen ist das?«

Da niemand antwortete, fuhr er fort:

»Es ist nicht das absolute Wissen über das Leben und den Tod, sondern das, was uns hilft, zu leben und die Herausforderungen des Alltags zu bewältigen. Es ist nicht die Bildung aus Büchern, die nur dazu dient, nutzlose Diskussionen über das zu führen, was geschehen ist oder geschehen wird, sondern die Weisheit, die im Herzen der Menschen guten Willens wohnt.«

Der Kopte sagte:

»Ich bin ein gebildeter Mann, habe viele Jahre meines Lebens damit verbracht, Dinge aus vergangenen Jahrhunderten wiederherzustellen und zu klassifizieren. Ich habe über Politik diskutiert, dennoch weiß ich jetzt nicht genau, was ich sagen soll. Aber ich werde die göttliche Kraft bitten, mein Herz zu läutern. Ihr stellt mir Fragen, und ich werde antworten. Im alten Griechenland lernten so die Meister: indem ihre Schüler sie zu etwas befragten, über das sie zuvor nie nachgedacht hatten, nun aber gezwungen waren, eine Antwort zu finden.«

»Und was machen wir mit den Antworten?«, fragte jemand.

»Einige von euch werden aufschreiben, was ich sage. Andere werden die Worte im Gedächtnis bewahren. Das Wichtigste aber ist, dass ihr euch heute Nacht in alle Himmelsrichtungen aufmacht und verbreitet, was ihr gehört habt. So wird die Seele Jerusalems bewahrt werden. Und eines Tages werden wir Jerusalem nicht nur als Stadt aus Stein wiederaufbauen, sondern als einen spirituellen Ort, an dem die Weisheit zusammenfließt und der Frieden wieder regiert.«

»Wir alle wissen, was uns morgen erwartet«, sagte ein anderer Mann. »Wäre es nicht besser, darüber zu sprechen, wie wir einen Frieden aushandeln oder uns auf den Kampf vorbereiten können?«

Der Kopte schaute die Gottesmänner an, die neben ihm saßen, und wandte sich dann an die Menge.

»Niemand weiß, was der morgige Tag für uns bereithält, denn jeder Tag hat seine guten und schlimmen Augenblicke. Daher vergesst, wenn ihr eure Fragen stellt, die Truppen dort draußen und die Angst hier drinnen. Unser Vermächtnis wird nicht sein, jenen, die die Erde einmal erben werden, zu sagen, was am heutigen Tag geschehen ist; das wird die Geschichte tun. Lasst uns also von unserem Alltag sprechen, von den Schwierigkeiten, die wir bewältigen mussten. Nur das interessiert künftige Generationen, denn ich bezweifle, dass sich in den nächsten tausend Jahren viel ändern wird.«

Da bat mein Nachbar Yakob:

»Sprich zu uns über die Niederlage.«

Was würdest du sagen?«, fragte der Kopte zurück. »Fühlt ein Blatt, das im Winter vom Baum fällt, sich von der Kälte besiegt?

Der Baum sagt zum Blatt: ›Dies ist der Kreislauf der Natur. Auch wenn du glaubst, dass du sterben wirst, lebst du in mir weiter. Dir verdanke ich, dass ich lebe, weil ich durch dich atmen konnte. Dir verdanke ich, dass ich mich geliebt fühlen durfte, denn ich konnte dem müden Wanderer Schatten spenden. Dein Saft ist in meinem Saft, wir sind eins.‹

Kann sich ein Mann besiegt fühlen, der sich jahrelang darauf vorbereitet hat, den höchsten Berg der Welt zu erklimmen, wenn er zum Berg gelangt und sieht, dass die Natur diesen in ein Unwetter gehüllt hat? Der Mann sagt zum Berg: ›Mag sein, dass du mich jetzt nicht willst, aber das Wetter wird sich ändern, und eines Tages werde ich deinen Gipfel erklimmen. Einstweilen wirst du dort auf mich warten.‹

Kann ein junger Mann, wenn er von seiner ersten Liebe abgewiesen wird, behaupten, es gebe die Liebe nicht? Der junge Mann sagt sich: ›Ich werde jemandem begegnen, der versteht, was ich fühle. Und dann werde ich für den Rest meines Lebens glücklich sein.‹

Es gibt im Kreislauf der Natur weder Sieg noch Niederlage. Es gibt nur Bewegung.

Der Winter kämpft darum, alleiniger Herrscher zu sein, aber am Ende wird er den Sieg des Frühlings hinnehmen müssen, der Blumen und Freude mit sich bringt.

Der Sommer will, dass seine heißen Tage ewig fortdauern, weil er überzeugt ist, dass nur die Wärme der Erde zuträglich ist. Aber am Ende nimmt er die Ankunft des Herbstes hin, der erlaubt, dass die Erde sich ausruht.

Die Gazelle frisst das Gras und wird vom Löwen verschlungen. Entscheidend ist nicht, wer der Stärkere ist; Gott weist uns damit auf den natürlichen Kreislauf von Leben, Tod und neuem Leben hin.

Und in diesem Kreislauf gibt es weder Sieger noch Besiegte, nur Etappen, die durchlaufen werden müssen. Wenn des Menschen Herz dies begreift, wird es frei. Dann erduldet es klaglos schwierige Augenblicke und lässt sich auch durch Augenblicke des Ruhms nicht täuschen.

Beide werden vorübergehen. Einer wird auf den anderen folgen. Und der Kreislauf wird sich fortsetzen, bis wir uns von allem Fleischlichen befreien und uns mit der göttlichen Kraft vereinigen.

Daher sollte der Kämpfer, wenn er sich in der Arena befindet (aus freien Stücken oder weil das unergründliche Schicksal ihn dorthin geführt hat), seinen Geist mit Freude an dem Kampf erfüllen, den er gleich ausfechten wird. Bewahrt er seine Würde und Ehre, kann er den Kampf verlieren, aber er wird nie ein Besiegter sein, weil seine Seele unverletzt blieb.

Und er wird niemandem die Schuld an dem geben, was mit ihm geschieht. Seit er zum ersten Mal geliebt hat und abgewiesen wurde, hat er dies begriffen, denn seine Fähigkeit zu lieben wurde damit nicht getötet. Was für die Liebe gilt, gilt auch für den Krieg.