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Möge alles, was meine Hand berührt, was meine Augen sehen, mein Mund kostet, sich jetzt anders anfühlen, anders aussehen, anders schmecken, obwohl es sich nicht verändert hat. So werden die Dinge keine tote Materie mehr sein und mir das Geheimnis verraten, weshalb sie schon so lange bei mir sind. Und sie werden mir zugleich das Wunder der Wiederbegegnung mit Gefühlen verschaffen, die von der Routine bereits verbraucht waren.

Ich werde einen Tee kosten, den ich noch nie getrunken habe und von dem alle sagen, er schmecke überhaupt nicht. Und ich werde durch eine Straße gehen, die alle uninteressant finden, und selbst herausfinden, ob ich dorthin zurückkehren möchte.

Falls morgen die Sonne scheint, möchte ich zu ihr hochschauen, als sähe ich sie zum ersten Mal.

Falls der Himmel bewölkt ist, möchte ich den Weg der Wolken verfolgen. Gewöhnlich fehlt mir dazu die Zeit, oder ich bin einfach nicht achtsam genug. Doch morgen werde ich mich auf die Sonnenstrahlen konzentrieren, auf die am Himmel dahinziehenden Wolken und die Schatten, die sie werfen.

Ich werde den Himmel betrachten, für dessen Existenz die Menschheit aufgrund jahrtausendelanger Beobachtung bereits eine ganze Reihe vernünftiger Erklärungen gefunden hat.

Doch ich will alles, was ich über die Sterne gelernt habe, wieder vergessen, damit sie in meiner Vorstellung wieder zu Engeln oder zu Kindern oder zu all dem werden können, was ich dann glauben möchte.

Die Zeit und das Leben haben alles vollkommen erklärbar gemacht – ich aber brauche das Mysterium, den Donner, der die Stimme eines zornigen Gottes ist, obwohl dies viele hier für gotteslästerlich halten.

Ich möchte, dass wieder Phantasie in mein Leben einzieht, möchte mir die Dinge neu vorstellen können, weil ein zorniger Gott viel überraschender, erschreckender und interessanter ist als ein Phänomen, das mir kluge Leute erklären.

Ich werde zum ersten Mal lächeln, ohne mich schuldig zu fühlen, denn Lächeln ist keine Sünde.

Ich werde zum ersten Mal alles meiden, was mir Leid verursacht, denn Leiden ist keine Tugend.

Ich werde mich nicht über mein Leben beklagen und darüber, dass sich nie etwas ändert. Denn ich werde den morgigen Tag erleben, als wäre er der erste, und werde in seinem Verlauf vieles entdecken, von dessen Existenz ich bisher nichts geahnt habe.

Die Menschen, die ich unzählige Male mit einem ›Guten Morgen‹ begrüßt habe, werde ich morgen anders grüßen. Mein Gruß wird eine Segnung sein, die mit dem Wunsch verbunden ist, dass alle auch angesichts des bevorstehenden Unglücks begreifen mögen, welch großes Geschenk es ist, am Leben zu sein.

Ich werde auf das Lied des Straßensängers achten, dem niemand zuhört, weil die Vorübergehenden vor lauter Angst ganz niedergedrückt sind. Er singt: ›Die Liebe regiert, doch niemand weiß, wo ihr Thron steht. Um den geheimen Ort zu finden, muss ich mich ihr zuerst einmal unterwerfen.‹

Und ich werde den Mut aufbringen, die Tür zum Heiligtum meiner Seele zu öffnen.

Und ich werde auch mich selbst mit anderen Augen ansehen, als würde ich zum ersten Mal mit meinem Körper und meiner Seele in Kontakt treten.

Und ich werde mich akzeptieren, wie ich bin. Als einen Menschen, der geht, fühlt, redet wie jeder andere auch und der – trotz seiner Fehler – etwas wagt.

Und ich werde über meine einfachsten Gesten staunen, so als würde ich mit einem Fremden sprechen. Über meine alltäglichsten Empfindungen, wie beispielsweise das Prickeln des Sandes auf meinem Gesicht, den der Wind aus Bagdad herüberweht. Oder über die zärtlichsten Augenblicke, wie wenn ich meine Frau im Schlaf betrachte und mich frage, was sie wohl gerade träumt.

Liege ich allein im Bett, werde ich ans Fenster treten, in den Himmel blicken und die Gewissheit haben, dass Einsamkeit eine Lüge ist und dass das ganze Universum mir Gesellschaft leistet.

Nur so werde ich der bleiben, der ich bin und der ich gern sein würde: eine ständige Überraschung für mich selbst. Ein Mensch, der weder von seinen Eltern noch durch deren Erziehung geschaffen wurde, sondern durch alles, was er bis heute erlebt hat, was er vergessen hat und jetzt wiederentdeckt.

Und selbst wenn dies mein letzter Tag auf Erden sein sollte, werde ich ihn ganz auskosten, weil ich ihn mit der Unschuld eines Kindes erleben werde, als täte ich alles zum ersten Mal.

Und die Ehefrau eines Händlers bat:

»Sprich zu uns über Sex.«

Und der Kopte antwortete:

»Männer und Frauen sprechen nur im Flüsterton über körperliche Liebe, denn in der Welt, in der wir heute leben, ist ein ursprünglich heiliger Akt etwas Sündiges geworden.

Doch auf die Dauer ist es gefährlich, die Wirklichkeit zu verleugnen. Ungehorsam kann durchaus auch eine Tugend sein, wenn wir ihn zu nutzen wissen.

Allein die Vereinigung von zwei Körpern ist noch keine körperliche Liebe, sondern nur Lust.

Doch wahre körperliche Liebe ist viel mehr als nur Lust. In ihr gehen Anspannung und Entspannung, Schmerz und Freude, Schüchternheit und die Kühnheit Hand in Hand, um Grenzen zu überschreiten.

Sind so viele Gegensätze miteinander vereinbar? Es gibt nur ein Mitteclass="underline" durch Hingabe.

Denn Hingabe bedeutet: ›Ich vertraue dir.‹

Es reicht nicht, sich alles nur vorzustellen, was geschehen könnte, wenn wir erlauben würden, dass sich nicht nur unsere Körper, sondern auch unsere Seelen vereinigen.

Machen wir uns also gemeinsam auf den gefährlichen Weg der Hingabe. Er ist zwar gefährlich, aber der einzige.

Mag dies auch in unserer Welt manches auf den Kopf stellen, so gewinnen wir doch die vollkommene Liebe nur, wenn wir die Pforte zwischen Körper und Geist öffnen.

Vergessen wir, was uns beigebracht wurde: dass es edel ist zu geben und erniedrigend zu empfangen.

Denn für die meisten Menschen bedeutet Großzügigkeit nur Geben. Aber etwas zu empfangen ist auch ein Akt der Liebe: zuzulassen, dass der andere Mensch uns glücklich macht – und dass dies ihn ebenfalls beglückt.

Wenn wir bei der körperlichen Liebe zu selbstlos sind und unsere Sorge hauptsächlich unserem Partner gilt, kann das dazu führen, dass unsere Lust abklingt oder gar vollständig verschwindet.

Wenn wir jedoch imstande sind, mit der gleichen Intensität zu geben und zu empfangen, spannt sich der Körper an wie die Bogensehne eines Schützen. Zugleich aber entspannt sich der Geist wie kurz vor dem Abschuss des Pfeils, und das Herz übernimmt die Kontrolle.

Körper und Seele begegnen sich, und die göttliche Kraft breitet sich aus – nicht nur in den der Lust zugeordneten Körperteilen, sondern bis in unsere Haarspitzen und in jeden Zentimeter Haut, so dass wir zu glühen beginnen.

Alles Spirituelle wird jetzt sichtbar, alles Sichtbare verwandelt sich in spirituelle Kraft.

Alles ist erlaubt, sofern beide es zulassen.

Die Liebe ist es manchmal leid, immer nur eine sanfte Sprache zu sprechen. Sie soll ruhig auch einmal stürmisch sein dürfen und lichterloh brennen.

Gibt sich einer der Partner ganz und gar hin, wird der andere es ihm gleichtun. Die Scham wird überwunden, und Neugier tritt an ihre Stelle. Und die Neugier lässt uns all das erforschen, was wir bislang in uns nicht vermutet hatten.

Versucht, die körperliche Liebe als ein Ritual der Verwandlung zu sehen. Wie in jedem Ritual ist die Ekstase gegenwärtig und glorifiziert das Ende – sie ist aber nicht das einzige Ziel.

Das Wichtigste daran ist, uns mit unserem Partner auf unbekanntes Terrain zu wagen.