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KARL JASPERS
Die Schuldfrage
LAMBERT SCHNEIDER · HEIDELBERG
Die Schuldfrage
Von
KARL JASPERS
Dr. med., o. ö. Prof. der Philosophie
1946
H E I D E L B E R G
L I Z E N Z U S · W · 1 0 0 7
L A M B E R T S C H N E I D E R
H E I D E L B E R G
Vorwort
Aus einer Vorlesungsreihe über die geistige Situation in Deutschland, die im Wintersemester 1945–1946 stattfand, wird hier der Inhalt der Stunden, welche über die Schuldfrage handelten, veröffentlicht.
Die Gesinnung, in der ich von ihr spreche, wird vielleicht durch die Einleitungsvorlesung, mit der ich das Semester begann, deutlicher. Ich stelle diese – noch in der Vor-lesungsform belassen – voran.
Mit allen diesen Erörterungen möchte ich als Deutscher unter Deutschen Klarheit und Einmütigkeit fördern, als Mensch unter Menschen teilnehmen an unserem Mühen um Wahrheit.
Heidelberg, April 1946
Karl Jaspers
Inhaltsübersicht
Einleitung zu einer Vorlesung
über die geistige Situation in Deutschland Das Bild der Universität, die neue Freiheit . . . . . . . 11
§ 1. Miteinanderreden . . . . . . . . . . . . . . . . 14
§ 2. Die großen Verschiedenheiten zwischen uns . 19
§ 3. Plan der folgenden Erörterungen . . . . . . . 24
Die Schuldfrage
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
A. SCHEMATIK DER UNTERSCHEIDUNGEN
§ 1. Vier Schuldbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . 31
§ 2. Folgen der Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . 34
§ 3. Gewalt · Recht · Gnade . . . . . . . . . . . . . 35
§ 4. Wer urteilt und wer wird beurteilt? . . . . . . 37
§ 5. Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
B. DIE DEUTSCHEN FRAGEN
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
I. Die Differenzierung deutscher Schuld
§ 1. Die Verbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
§ 2. Die politische Schuld . . . . . . . . . . . . . . 55
§ 3. Die moralische Schuld . . . . . . . . . . . . . . 57
§ 4. Die metaphysische Schuld . . . . . . . . . . . 63
§ 5. Zusammenfassung: a) Folgen der Schuld . . . 65
b) Die Kollektivschuld . . 67
II. Möglichkeiten der Entschuldigung
§ 1. Der Terrorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
§ 2. Schuld und historischer Zusammenhang . . . 75
§ 3. Die Schuld der anderen . . . . . . . . . . . . . 79
§ 4. Aller Schuld? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
III. Unsere Reinigung
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
§ 1. Ausweichen vor der Reinigung . . . . . . . . . 90
§ 2. Der Weg der Reinigung . . . . . . . . . . . . . 102
Einleitung zu einer Vorlesung über die geistige Situation in
Deutschland
Meine Damen und Herren!
Wer von Ihnen in den letzten Jahren als Student in diesen Räumen saß, wird jetzt vielleicht denken: Es klingt plötzlich alles ganz anders; die Szene hat gewechselt; der Gang der politischen Ereignisse stellt die Dozenten als Pup-pen heraus, einmal diese, einmal jene; als Organe der Macht sagen sie ihr Verslein her; ob sie so oder so reden, keinem ist zu trauen; wes Brot ich eß, des Lied ich sing – das gelte auch von den Professoren.
Ich verstehe dies Mißtrauen bei jedem jungen Menschen, der in den letzten zwölf Jahren in dieser Umwelt zum Bewußtsein erwacht ist. Aber ich bitte Sie, im Gang Ihres Studiums sich für die Möglichkeit offenzuhalten, daß es jetzt anders ist, daß es sich jetzt doch wirklich um Wahrheit handle. Der Anspruch geht an Sie selbst, daß jeder für sich an seiner Stelle mitwirke, daß Wahrheit offenbar werde.
Vorläufig aber hören Sie meine Auffassung von der Lage in den Wissenschaften an der Universität und prüfen sie.
Sie ist folgende:
In manchen Wissenschaften werden Sie kaum etwas anderes hören, als in den vorigen Jahren. Forscher, die sich treu blieben, haben hier jederzeit Wahrheit gelehrt. Sie werden manche Lehrer wieder angetroffen haben, die in Stimme und Ton ebenso wie im Inhalt und in den Grundanschau-ungen ihrer Vorlesungen Ihnen als dieselben entgegentre-ten, die sie alle die Jahre waren.
Dagegen werden Sie besonders in weltanschaulichen und politischen Gebieten vielleicht einen wunderlichen Eindruck haben. Es klingt in der Tat nun alles ganz anders.
Diejenigen zwar, die schon vor 1933 oder auch noch in den ersten Jahren nachher hier hörten, würden, wenn sie wieder hier säßen, bei manchem von uns wohl eine Überein-stimmung der Grundhaltung wahrnehmen. Aber auch da ist vielleicht eine Verwandlung durch die Erschütterungen dieses Jahrzehnts spürbar. Und ein Szenenwechsel ist in der Tat. Dozenten, die Ihnen die nationalsozialistischen Redewendungen vortrugen, sind verschwunden. Andere Dozenten sind aus der Vergangenheit als alte Leute wieder aufgetaucht oder jung hinzugekommen in einer Verwandlung zur Freiheit und Offenheit, während sie bis dahin eine Maske tragen mußten.
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Wiederum bitte ich Sie: hüten Sie sich vor dem vorzeiti-gen Schluß, von diesen würde jetzt das Gegenteil des eben noch Gültigen gelehrt; man rede ja genau so wie vorher, nur umgekehrt; was vorher verherrlicht wurde, das werde jetzt bekämpft; was vorher bekämpft wurde, das werde jetzt verherrlicht. In jedem Fall, gestern wie heute, sei die Lehre politisch erzwungen, also keine eigentliche Wahrheit. – Nein, so ist es wenigstens nicht überall. Wo es so wäre, da wäre in der Tat kein wesentlicher Unterschied.
Nicht die Denkungsart, sondern nur die Richtung der Aggressivität oder der schwindelhaften Verherrlichung hätte gewechselt.
Wir Professoren werden durch die Weise unserer Lehre zu zeigen haben, daß der radikale Unterschied zwar auch durch bestimmte Inhalte, entscheidend aber in der Denkungsart selber besteht. Wenn frühere Lehre Propaganda, nicht Wissenschaft war und nicht Philosophie, so soll jetzt nicht etwa ein anderer Standpunkt bezogen werden, sondern die Denkweise zurückkehren zur kritischen Bewegung, zum Forschen, das das eigentliche Erkennen ist. Dieses kann man unterdrücken. So wie man ihm Raum gibt, erwächst es aus dem Wesen des Menschseins.
Wohl ist alles Denken und Forschen abhängig von den politischen Zuständen. Aber der Unterschied ist, ob Denken und Forschen von der politischen Macht für ihre eigenen Zwecke gezwungen und für sie eingesetzt werden, oder ob sie frei gelassen werden, weil die politische Macht freie Forschung, einen von ihrer unmittelbaren Einwirkung freien Raum, will.
Vor 1933 durften wir und jetzt dürfen wir wieder frei denken und reden. Der gegenwärtige politische Zustand ist eine Militärregierung und eine durch deren Autorität eingesetzte deutsche Regierung, welche ihrerseits daher noch keine demokratische, sondern eine autoritäre Regierung ist.
Aber beide, Militärregierung und deutsche Regierung, zwingen uns keine Linie unseres Denkens und Forschens auf, sondern lassen uns frei für die Wahrheit.
Das heißt heute noch nicht, daß wir die Freiheit zu be-liebigen Urteilen hätten.
Die Gesamtlage läßt es nicht zu, über alle weltpolitisch entscheidenden Fragen, die gegenwärtig im politischen 12