Reinigung ist nicht dieselbe für alle. Jeder geht persönlich seinen Weg. Der ist von niemand anderem vorwegzu-nehmen und nicht zu zeigen. Die allgemeinen Gedanken können nur aufmerksam machen, vielleicht erwecken.
Fragen wir nun am Ende unserer Schulderörterungen, worin die Reinigung besteht, so ist über das Gesagte hinaus keine weitere konkrete Angabe zu machen. Wo etwas nicht als Zweck des verständigen Willens realisiert werden kann, sondern durch inneres Handeln als Verwandlung geschieht, da kann man nur die unbestimmten umgreifenden Wendungen wiederholen: Erhellung und Durchsichtigwerden im Aufschwung, – Liebe zum Menschen.
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Was die Schuld angeht, so ist ein Weg das Durchdenken der vorgetragenen Gedanken. Sie müssen nicht nur mit dem Verstände abstrakt gedacht, sondern anschaulich vollzogen werden; sie müssen vergegenwärtigt, angeeignet oder verworfen werden mit dem eigenen Wesen. Dieser Vollzug und was darausfolgt ist Reinigung. Diese ist nicht am Ende noch ein Neues, Hinzukommendes. –
Reinigung ist die Bedingung auch unserer politischen Freiheit. Denn erst aus dem Schuldbewußtsein entsteht das Bewußtsein der Solidarität und Mitverantwortung, ohne die die Freiheit nicht möglich ist.
Politische Freiheit beginnt damit, daß in der Mehrheit des Volkes der einzelne sich für die Politik seines Gemein-wesens mit haftbar fühlt, – daß er nicht nur begehrt und schilt, – daß er vielmehr von sich verlangt, Realität zu sehen und nicht zu handeln aus dem in der Politik falsch angebrachten Glauben an ein irdisches Paradies, das nur aus bösem Willen und Dummheit der anderen nicht verwirklicht wurde, – daß er vielmehr weiß: Politik sucht in der konkreten Welt den je gangbaren Weg, geführt von dem Ideal des Menschseins als Freiheit.
Kurz: Ohne Reinigung der Seele keine politische Freiheit. –
Wie weit wir mit der inneren Reinigung auf dem Grunde des Schuldbewußtseins gekommen sind, erfahren wir an unserem Verhalten zu Angriffen.
Ohne Schuldbewußtsein bleibt unsere Reaktion auf jeden Angriff der Gegenangriff. Wenn aber die innere Erschütterung uns ergriffen hat, dann streift der äußere Angriff nur noch oberflächlich über uns hin. Er mag noch schmerzen und kränken, aber er dringt nicht ins Innere der Seele.
Wo das Schuldbewußtsein angeeignet ist, da ertragen wir falsche und ungerechte Beschuldigungen mit Ruhe.
Denn Stolz und Trotz sind eingeschmolzen.
Wer wahrhaft Schuld fühlt, so daß sein Seinsbewußtsein in Verwandlung ist, auf den wirken Vorwürfe seitens anderer Menschen wie ein Kinderspiel, das in seiner Harm-losigkeit nicht mehr trifft, wo das wirkliche Schuldbewußtsein untilgbarer Stachel ist und das Selbstbewußtsein in eine neue Gestalt gezwungen hat. Hört man solche Vor-104
würfe, so fühlt man vielmehr mit Sorge, wie unbetroffen und ahnungslos der andere ist. Ist eine Atmosphäre des Vertrauens da, so erinnert man an die Schuldmöglichkeit in jedem Menschen. Aber man kann darüber nicht mehr zornig werden.
Ohne Durchheilung und Verwandlung unserer Seele würde sich die Empfindlichkeit in wehrloser Ohnmacht nur steigern. Das Gift psychologischer Umsetzungen würde uns innerlich verderben. Wir müssen bereit sein, uns Vorwürfe gefallen zu lassen, sie prüfen, nachdem wir sie gehört haben.
Wir müssen die Angriffe auf uns eher suchen als meiden, weil sie für uns eine Kontrolle des eigenen Denkens sind.
Unsere innere Haltung wird sich bewähren.
Die Reinigung macht uns frei. Der Gang der Dinge liegt in keines Menschen Hand beschlossen, wenn der Mensch auch unberechenbar weit kommen kann in der Führung seines Daseins. Weil die Ungewißheit bleibt und die Möglichkeit neuen und größeren Unheils, weil aus der Verwandlung im Schuldbewußtsein keineswegs eine Belohnung mit neuem Glück des Daseins die natürliche Folge ist, darum können wir nur durch die Reinigung frei werden zur Bereitschaft für das, was kommt.
Die reine Seele kann wahrhaftig in der Spannung leben, angesichts des völligen Untergangs unermüdlich in der Welt tätig zu sein für das Mögliche.
Wenn wir auf die Weltereignisse blicken, tun wir gut, an Jeremias zu denken. Als er nach der Zerstörung Jerusa-lems, nach dem Verlust von Staat und Land, nach seiner zwangsweisen Mitführung durch die letzten nach Ägypten auswandernden Juden dann noch erleben mußte, wie diese der Isis opferten in der Hoffnung, diese würde ihnen mehr helfen als Jahwe, da verzweifelte sein Jünger Baruch. Und Jeremias antwortete: »So spricht Jahwe: Fürwahr, was ich aufgebaut habe, reiße ich nieder, und was ich eingepflanzt habe, reiße ich aus, und da verlangst du für dich Großes?
Verlange nicht!« Was heißt das? Daß Gott ist, ist genug.
Wenn alles verschwindet, Gott ist, das ist der einzige feste Punkt.
Aber was vor dem Tode, im Äußersten wahr ist, das wird zur schlimmen Verführung, wenn der Mensch in Müdigkeit, Ungeduld, Verzweiflung sich vorzeitig hineinstürzt. Denn 105
wahr ist jene Haltung an der Grenze nur, wenn sie getragen ist von der unbeirrbaren Besonnenheit, jederzeit das noch Mögliche zu ergreifen, so lange das Leben währt. Demut und Maßhalten ist unser Teil.
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Die Schuldfrage
Vorwort
Inhaltsübersicht
Einleitung zu einer Vorlesung über die geistige Situation in Deutschland
§ 1. Miteinanderreden
§ 2. Die großen Verschiedenheiten zwischen uns
§ 3. Plan der folgenden Erörterungen
Die Schuldfrage
Einleitung
A. Schematik der Unterscheidungen
§ 1. Vier Schuldbegriffe
§ 2. Folgen der Schuld
§ 3. Gewalt · Recht · Gnade
§ 4. Wer urteilt und wer oder was wird beurteilt?
§ 5. Verteidigung
B. Die deutschen Fragen
I. Die Differenzierung deutscher Schuld
§ 1. Die Verbrechen
§ 2. Die politische Schuld
§ 3. Die moralische Schuld
§ 4. Die metaphysische Schuld
§ 5. Zusammenfassung
II. Möglichkeiten der Entschuldigung
§ 1. Der Terrorismus
§ 2. Schuld und historischer Zusammenhang
§ 3. Die Schuld der anderen
§ 4. Aller Schuld
III. Unsere Reinigung
§ 1. Ausweichen vor der Reinigung
§ 2. Der Weg der Reinigung