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In Grundzügen gemeinsam ist uns Deutschen heute vielleicht nur Negatives: die Zugehörigkeit zu einem festlos besiegten Staatsvolk, ausgeliefert der Gnade oder Ungnade der Sieger; der Mangel eines gemeinsamen uns alle ver-bindenden Bodens; die Zerstreutheit: jeder ist im wesent-lichen auf sich gestellt, und doch ist jeder als einzelner hilf-los. Gemeinsam ist die Nichtgemeinsamkeit.

In dem Schweigen unter dem nivellierenden Reden der öffentlichen Propaganda der zwölf Jahre haben wir sehr verschiedene innere Haltungen eingenommen und sehr verschiedene innere Entwicklungen durchgemacht. Wir haben in Deutschland nicht eine einheitliche Verfassung unserer Seelen, unserer Wertschätzungen und Wünsche. Weil das, was wir alle die Jahre geglaubt haben, was wir für wahr hielten, was uns Sinn des Lebens war, so sehr voneinander abwich, darum muß auch jetzt die Weise der Verwandlung für den einzelnen verschieden sein. Wir alle verwandeln uns.

Aber wir gehen nicht alle denselben Weg zu dem neuen, von uns gesuchten, uns wieder vereinigenden Boden der gemeinsamen Wahrheit. Jeder darf in solcher Katastrophe sich um-schmelzen lassen zur Wiedergeburt, ohne fürchten zu müssen, dadurch ehrlos zu sein. Das, worauf wir schmerzvoll ver-zichten müssen, ist nicht für alle das gleiche, so wenig, daß das, was dem einen Verzicht ist, dem andern Gewinn scheinen kann. Die Weise der Enttäuschung hält uns getrennt.

Daß jetzt die Verschiedenheiten aufbrechen, ist die Folge davon, daß 12 Jahre keine öffentliche Diskussion möglich war und daß auch im Privatleben alles, was Opposition war, sich auf intimste Unterhaltungen beschränkte, ja zum Teil auch noch Freunden gegenüber zurückhaltend war. Öffentlich und allgemein, daher suggestiv und für darin aufge-wachsene Jugend fast selbstverständlich war nur die nationalsozialistische Denk- und Redeweise.

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Nun wir heute wieder frei reden können, finden wir uns so, als ob wir aus verschiedenen Welten kämen. Und doch sprechen wir alle die deutsche Sprache und sind alle in diesem Lande geboren und haben hier unsere Heimat.

Die Verschiedenheit, ja Weltenferne darf uns nicht ver-drießen. Wir wollen zueinander finden, miteinander reden, uns zu überzeugen suchen. Vergegenwärtigen wir uns einige typische Differenzen.

Bis zur Unvereinbarkeit verschieden waren unsere Auf-fassungen von den Ereignissen: Einige erlebten den ganzen Bruch durch die Erfahrung der nationalen Würdelosigkeit schon 1933, andere seit Juni 1934, wieder andere 1938 mit den Judenpogromen, viele seit 1942, als die Niederlage wahrscheinlich, oder seit 1943, als sie gewiß war, einige erst 1945, als sie tatsächlich eintrat. Für die ersten war 1945

Befreiung zu neuen Möglichkeiten, für andere wurden es die schwersten Tage, weil das Ende des vermeintlich nationalen Reichs.

Einige haben mit Radikalität den Ursprung des Unheils gesucht und die Konsequenz gezogen. Sie ersehnten schon 1933 den Eingriff und Einmarsch der Westmächte. Denn sie sahen: nun die Türen des deutschen Zuchthauses zu-geworfen sind, kann Befreiung nur noch von außen kommen. Die Zukunft der deutschen Seele war gebunden an diese Befreiung. Sollte die Zerstörung deutschen Wesens nicht vollendet werden, so mußte diese Befreiung möglichst schnell durch abendländisch gesinnte Bruderstaaten aus gemeinsamem europäischen Interesse geschehen. Diese Befreiung geschah nicht, sondern der Weg ging bis zu 1945, bis zur furchtbarsten Zerstörung aller unserer physischen und moralischen Wirklichkeiten.

Aber diese Auffassung ist uns gar nicht gemeinsam.

Außer denen, die im Nationalsozialismus das goldene Zeitalter sahen oder noch sehen, gab es Gegner des National-Sozialismus, die doch überzeugt waren, daß ein Sieg Hitlerdeutschlands nicht die Zerstörung deutschen Wesens zur Folge haben würde. Vielmehr sahen sie in einem solchen Sieg Deutschlands große Zukunft begründet, weil sie meinten, ein siegreiches Deutschland werde sich der Partei ent-ledigen, sei es sofort, sei es mit dem Tode Hitlers. Sie glaubten nicht dem alten Satz, daß jede Staatsmacht sich nur 21

durch die Kräfte halten kann, die sie begründet haben, glaubten nicht, daß der Terror aus der Natur der Sache heraus gerade nach dem Siege unbrechbar, daß Deutschland nach einem Siege und nach der Entlassung der Armee von der SS als Sklavenvolk in Schach gehalten worden wäre zur Ausübung einer öden, vernichtenden, freiheitlosen Weltherrschaft, in der alles Deutsche erstickt wäre.

Eine weitere Verschiedenheit liegt in der Weise der Not, die, obgleich uns allen gemeinsam, in ihrer besonderen Erscheinung nach Maß und Art außerordentlich unterschieden ist. Nächste Angehörige und Freunde sind umgekom-men oder verschollen. Wohnungen liegen in Trümmern.

Besitztum ist vernichtet. Wohl hat jeder Sorgen, starke Einschränkungen, physisches Leid, aber es ist etwas ganz anderes: ob einer noch Wohnung und Hausrat hat oder bombenvernichtet lebt; ob einer sein Leid und seine Verluste im Kampf der Front, zu Hause oder im KZ hatte; ob er zu den Gestapoverfolgten oder zu den Nutznießern des Regimes, wenn auch in Angst, gehörte. Fast jeder hat nächste Freunde und Angehörige verloren, wie aber er sie verloren hat, durch Kampf an der Front, Bomben, KZ oder den Massenmord seitens des Regimes, das hat sehr abwei-chende innere Haltungen zur Folge. Millionen Kriegsver-sehrte suchen ihre Lebensform. Hunderttausende sind aus den Konzentrationslagern gerettet. Millionen werden eva-kuiert und auf die Wanderschaft getrieben. Der größte Teil der männlichen Bevölkerung hat die Gefangenenlager durchgemacht und Erfahrungen sehr entgegengesetzter Art ge-habt. Viele Menschen sind an die Grenzen des Menschlichen gestoßen und heimgekehrt und können nicht vergessen, was wirklich war. Zahllose werden durch die Denazifikation aus ihrer bisherigen Bahn geworfen. Die Not ist der Art nach verschieden. Die meisten haben nur für die eigene einen wirklichen Sinn. Jeder neigt dazu, große Verluste und Leiden als Opfer zu deuten, aber wofür dieses Opfer war, das ist so abgründig verschieden deutbar, daß es die Menschen zunächst trennt.

Gewaltig ist der Unterschied durch den Verlust eines Glaubens. Uns allen ist zwar in irgendeiner Weise der Boden unter den Füßen weggezogen. Nur ein transzendent gegründeter religiöser oder philosophischer Glaube kann 22

sich durch alle diese Katastrophen halten. Was in der Welt galt, wurde brüchig. Der gläubige Nationalsozialist kann nur durch Gedanken, die noch absurder sind als die der Zeit seiner Herrschaft, nach hinfälligen Träumen haschen.

Der Nationalist steht ratlos zwischen der Verworfenheit des Nationalsozialismus, die er durchschaut, und der Realität der Lage Deutschlands.

Gewaltig ist auch der Unterschied an Art und Maß der Schuld. Niemand ist schuldlos Wir werden die Frage in späteren Stunden erörtern.

Aber niemand steht außerhalb des Menschseins, sofern er seine Schuld büßt.

Wohl ist es sinnvoll, daß je nach seiner Vergangenheit der einzelne sich zurückhält, verzichtet – es gilt von einzelnen, nicht vielen, daß sie jetzt zunächst vielleicht schweigen sollten.

In Deutschland bestehen nicht nur die Unterschiede zwischen den eigentümlichen durch das deutsche Verhängnis begründeten Stellungen, sondern es gibt hier auch dieselben Parteiungen, die dem gesamten Abendland gemeinsam sind, die sozialistischen und bürgerlich-kapitalistischen Tendenzen, die politisch werdenden Konfessionen, den demokrati-schen Freiheitswillen und die Neigung zur Diktatur. Und nicht nur das. Es kann uns geschehen, daß diese Gegen-sätze von den alliierten Mächten her auf uns wirken und an uns als einem jetzt politisch ohnmächtigen, nachgiebigen Versuchsmaterial arbeiten.