Alle diese Verschiedenheiten führen ständig zum Abbruch zwischen uns Deutschen, zur Zerstreuung und Teilung von einzelnen und Gruppen, dies um so mehr, weil unserem Dasein die gemeinsame ethisch-politische Grundlage fehlt. Wir haben Schatten nur des wirklich gemeinsamen politischen Bodens, auf dem stehend wir solidarisch bleiben könnten auch in den heftigsten Auseinandersetzun-gen. Uns mangelt in hohem Maße das Miteinanderreden und Aufeinanderhören. Uns mangelt Beweglichkeit, Kritik und Selbstkritik. Wir neigen zum Doktrinären.
Dies wird verschlimmert dadurch, daß so viele Menschen nicht eigentlich nachdenken wollen. Sie suchen nur Schlag-worte und Gehorsam. Sie fragen nicht und sie antworten nicht, außer durch Wiederholung eingelernter Redensarten.
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Sie können nur behaupten und gehorchen, nicht prüfen und einsehen, daher auch nicht überzeugt werden. Wie soll man reden mit Menschen, die nicht mitgehen wollen, wo ge-prüft und nachgedacht wird, und wo Menschen ihre Selb-ständigkeit durch Einsicht und Überzeugung suchen!
Oft drängt sich einfach die Verschiedenheit der Charakter-anlage vor. Manche Menschen neigen jederzeit zur Opposition, andere zum Mitläufertum.
Deutschland kann nur wieder zu sich kommen, wenn wir Deutschen in der Kommunikation zueinander finden. Die allgemeine Lage scheint uns nur durch Negation zu verbinden. Wenn wir lernen, wirklich miteinander zu reden, so doch nur im Bewußtsein unserer großen Verschiedenheit.
Einheit durch Zwang taugt nichts; sie verfliegt als Schein in der Katastrophe. Einmütigkeit durch Miteinanderreden und Verstehen, durch gegenseitiges Dulden und Nachgeben führt zur Gemeinschaft, die standhält.
Wenn wir Typisches darstellten und in den folgenden Erörterungen entwickeln werden, so braucht sich niemand zu klassifizieren. Wer auf sich bezieht, tut es auf eigene Verantwortung.
§ 3. Plan der folgenden Erörterungen
Wir wollen Orientierung über unsere Lage, suchen die Frage zu beantworten, was zu ihr geführt hat, dann zu sehen, was wir sind und sein sollen, was eigentlich deutsch ist, und schließlich zu fragen, was wir noch wollen können.
I) Die Geschichte ist jetzt erst endgültig Weltgeschichte, Menschheitsgeschichte des Erdballs, geworden. Die eigene Situation ist daher nur zugleich mit der weltgeschichtlichen Lage zu erfassen. Was heute geschehen ist, hat seinen Grund in allgemeinen Ereignissen und Zuständen der Menschheit.
Dazu kommen erst besondere Zusammenhänge innerhalb der Völker und Entschlüsse einzelner Gruppen von Menschen.
Was geschieht, ist eine Krise der Menschheit. Der Beitrag einzelner Völker und Staaten, der verhängnisvolle oder rettende, kann nur im Rahmen des Ganzen gesehen werden, so auch die Zusammenhänge, die zu diesem Kriege geführt haben, und die Erscheinungen, die in ihm auf neue grauenvolle Weise offenbar machten, was der Mensch sein 24
kann. Nur in solchem Gesamtzusammenhang kann auch die Schuldfrage gerecht zugleich und unerbittlich erörtert werden. Daher stellen wir an den Anfang ein Thema, in dem noch gar nicht von Deutschland die Rede ist. Das Allgemeine des Zeitalters, wie es als technisches Zeitalter und in der großen Politik und in dem Verlust oder der Verwandlung allen Glaubens sich zeigt.
Nur in der Vergegenwärtigung dieses Allgemeinen kann man unterscheiden, was allen Menschen zukommt, und was einer besonderen Gruppe eigen ist; oder weiter: was in der Natur der Sache, im Gang der Dinge liegt, und was freiem menschlichen Entschluß zuzurechnen ist.
II) Vor dem Hintergrund dieses Allgemeinen suchen wir zweitens den Weg zur deutschen Frage: Wir vergegenwärtigen unsere reale Lage als Quelle unserer geistigen Lage –
charakterisieren den Nationalsozialismus –, fragen, wie er möglich war und wie es zu ihm gekommen ist – und erörtern schließlich die Schuldfrage *.
III) Nach der Vergegenwärtigung des Unheils fragen wir drittens: was ist deutsch? Wir wollen deutsche Geschichte, deutschen Geist, die Verwandlungen unseres deutschen Nationalbewußtseins und große deutsche Menschen sehen.
Solche geschichtliche Selbstbesinnung unseres Deutschseins ist zugleich ethische Selbstprüfung. Was wir selber wollen und sollen, sehen wir im Spiegel unserer Geschichte.
Wir hören es aus dem Anspruch unserer hohen Ahnen und ergreifen es zugleich mit der Erhellung der geschichtlichen Idole, die uns in die Irre führten.
Was wir für deutsch halten, ist nie nur Erkenntnis, sondern ethischer Entschluß, ein Faktor im Werden des Deutschen. Was das eigene Volk ist, ist endgültig erst entschieden, wenn es historisch abgeschlossen, nur Vergangenheit, nicht mehr Zukunft ist (wie das alte Griechentum).
IV) Dies, daß wir noch leben, noch in der Geschichte und nicht am absoluten Ende stehen, führt viertens zur Frage, was für uns noch möglich ist. Hat der Deutsche noch eine Kraft im politischen Untergang, in wirtschaftlicher wie politischer Ohnmacht? Oder ist doch schon das Ende da?
* Nur dieser letzte Abschnitt über die Schuldfrage ist im Folgenden veröffentlicht, seinem Inhalt nach ausgearbeitet und von der Vor-lesungsform befreit.
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Die Antwort wird gegeben durch Entwurf des Ethos, das uns bleibt – und wenn es das Ethos eines Volkes wäre, das der Welt heute als Pariavolk gilt.
Die Schuldfrage
Einleitung
Fast die gesamte Welt erhebt Anklage gegen Deutschland und gegen die Deutschen. Unsere Schuld wird erörtert mit Empörung, mit Grauen, mit Haß, mit Verachtung.
Man will Strafe und Vergeltung. Nicht nur die Sieger, auch einige unter den deutschen Emigranten, sogar Angehörige neutraler Staaten beteiligen sich daran. In Deutschland gibt es Menschen, welche Schuld, sich selber einschließend, bekennen, gibt es viele, die sich für schuldfrei halten, aber andere für schuldig erklären.
Es liegt nahe, der Frage sich zu entziehen. Wir leben in Not, ein großer Teil unserer Bevölkerung in so großer, so unmittelbarer Not, daß er unempfindlich geworden zu sein scheint für solche Erörterungen. Ihn interessiert, was der Not steuert, was Arbeit und Brot, Wohnung und Wärme bringt. Der Horizont ist eng geworden. Man mag nicht hören von Schuld, von Vergangenheit, man ist nicht betroffen von der Weltgeschichte. Man will einfach aufhören zu leiden, will heraus aus dem Elend, will leben, aber nicht nachdenken. Es ist eher eine Stimmung, als ob man nach so furchtbarem Leid gleichsam belohnt, jedenfalls getröstet werden müßte, aber nicht noch mit Schuld beladen werden dürfte.
Trotzdem: auch wer sich dem Äußersten preisgegeben weiß, fühlt doch in Augenblicken den Drang nach ruhiger Wahrheit. Es ist nicht gleichgültig und nicht nur ein Gegenstand des Unwillens, daß zur Not auch noch die Anklage kommt. Wir wollen klar werden, ob diese Anklage Recht oder Unrecht ist und in welchem Sinne. Denn gerade in der Not kann das Unerläßlichste um so fühlbarer sein: in der eigenen Seele rein zu werden und das Rechte zu denken und zu tun, um aus echtem Ursprung vor dem Nichts das Leben ergreifen zu können.
In der Tat sind wir Deutschen ohne Ausnahme verpflichtet, in der Frage unserer Schuld klar zu sehen und die Fol-gerungen zu ziehen. Unsere Menschenwürde verpflichtet uns. Schon was die Welt über uns denkt, kann uns nicht gleichgültig sein; denn wir wissen uns zur Menschheit gehörig, sind zuerst Menschen und dann Deutsche. Wichtiger aber noch ist uns, daß unser eigenes Leben in Not und Abhängigkeit seine Würde nur noch durch Wahrhaftigkeit 29
uns selbst gegenüber haben kann. Die Schuldfrage ist mehr noch als eine Frage seitens der andern an uns eine Frage von uns an uns selbst. Wie wir ihr in unserem Innersten antworten, das begründet unser gegenwärtiges Seins- und Selbstbewußtsein. Sie ist eine Lebensfrage der deutschen Seele. Nur über sie kann eine Umkehrung stattfinden, die uns zu der Erneuerung aus dem Ursprung unseres Wesens bringt. Die Schuldigerklärungen seitens der Sieger haben zwar die größten Folgen für unser Dasein, sie haben politischen Charakter, aber sie helfen uns nicht im Entscheidenden: der inneren Umkehrung. Hier haben wir es allein mit uns selbst zu tun. Philosophie und Theologie sind berufen, die Tiefe der Schuldfrage zu erhellen.