»Und was?«
Lady Grandersmith lachte. »Warten Sie's ab. Ich verspreche Ihnen, daß Sie nicht enttäuscht sein werden. « Trautman blickte weiterhin mißtrauisch, aber er sagte nichts mehr, sondern faßte sich in Geduld, bis ihr Führer zurückkam. Er brachte drei Petroleumlampen mit, die jedoch noch nicht brannten. Lady Grandersmith winkte auffordernd und begann als erste die hohen Steinquader hinaufzuklettern, und langsam folgten ihr die anderen.
Es war ein unheimliches Gefühl, in fast vollkommener Dunkelheit an der Außenseite der Pyramide hinaufzuklettern; umso mehr, als sie kaum sahen, wohin sie traten. Der Himmel war zwar wolkenlos, aber es war beinahe Neumond, so daß die Pyramide wie ein riesiger gemauerter Berg über ihnen emporzuragen schien, dessen Gipfel schon nicht mehr zu sehen war. Und auch der Boden verschwand in endlosem Schwarz, kaum daß sie vier oder fünf der Blöcke erklommen hatten.
Nach weiteren zehn Stufen hörte Mike auf, sie zu zählen, aber es ging noch ein gutes Stück weiter nach oben, bis Lady Grandersmith endlich anhielt und mit sichtlicher Ungeduld darauf wartete, daß Mike und die anderen zu ihr aufschlossen. Mikes Herz jagte von der Anstrengung, und seine Hände und Knie zitterten leicht. Mittlerweile fand er ihren nächtlichen Ausflug gar nicht mehr aufregend, sondern eher unheimlich und wahrscheinlich wirklich so gefährlich, wie Trautman vorher gesagt hatte.
»Na, habt ihr noch Puste?« fragte Lady Grandersmith fröhlich.
»Das schon«, antwortete Trautman. »Aber wohin führen Sie uns eigentlich? Soviel ich weiß, liegt der Eingang zum Inneren der Pyramide auf der anderen Seite. «
»Das stimmt«, antwortete Lady Grandersmith. »Aber wir nehmen nicht den offiziellen Eingang. « »Gibt es denn noch einen?« fragte Juan verblüfft. »Laßt euch überraschen«, sagte Lady Grandersmith. »Es ist jetzt nicht mehr weit. «
Mike und Juan tauschten einen erstaunten Blick. Einenzweiten Eingangin die Cheopspyramide? Das war schier unglaublich! So viele Forscher hatten versucht, das Geheimnis dieses Riesenbauwerkes zu entschlüsseln, und bisher hatte man nichts entdeckt als einen einzigen, kahlen Gang, der in eine beinahe leere Kammer führte; eine Kammer noch dazu, von der längst nicht alle Wissenschaftler überzeugt waren, daß es sich tatsächlich um die echte Grabkammer des Pharaos handelte. Schlagartig vergaß er sämtliche Vorbehalte und auch seine Erschöpfung. Vielleicht standen sie kurz vor einer Entdeckung, die auf ihre Weise ebenso phantastisch war wie die, die sie damals auf Kapitän Nemos Vergessener Insel gemacht hatten. Der Weg war tatsächlich nicht mehr sehr weit. Sie balancierten hintereinander vielleicht noch fünfzehn oder zwanzig Meter auf der schmalen Steinstufe entlang, bis ihr Führer stehenblieb. Mike konnte nicht genau erkennen, was er tat, aber dann ertönte ein Knirschen, als scharre Stein über Stein. Und jetzt zündete Lady Grandersmith auch endlich die Lampen an. Zwei davon reichte sie an Trautman und Singh weiter, die dritte behielt sie selbst in der Hand und hob sie ein wenig in die Höhe.
Was in dem flackernden gelben Licht zum Vorschein kam, das verschlug Mike schier den Atem. Ihr Führer war verschwunden. Wo er gestanden hatte, gähnte ein gut anderthalb Meter hohes, rechteckiges Loch in der scheinbar so massiven Wand der Pyramide. Dahinter war ein schmaler, schräg in die Tiefe führender Gang zu erkennen, der sich jedoch nach wenigen Metern in vollkommener Schwärze verlor. Trautman sog ungläubig die Luft ein. »Aber das ist doch -«
»Habe ich zu viel versprochen?« fragte Lady Grandersmith stolz. »Kommen Sie. Das Beste erwartet uns noch!«
Sie trat gebückt durch den Eingang, wobei sie ungeduldig mit der freien Hand wedelte, ihr zu folgen. Trautman zögerte sichtlich, doch schließlich gewann die Neugier. Er folgte Lady Grandersmith, und Mike und die anderen schlossen sich an. Mike bemerkte, daß Hasim den Abschluß der kleinen Gruppe bildete. Er maß dieser Beobachtung zwar keine besondere Bedeutung zu, aber sie gefiel ihm auch nicht. Der Gang war so schmal, daß sie nur hintereinandergehen konnten, und Trautmans breite Schultern die Wände an beiden Seiten streiften. Der Boden fiel in steilem Winkel ab, so daß Mike instinktiv die Arme ausstreckte und sich an den groben Steinwänden festhielt, um die Balance zu halten, und manchmal senkte sich die Decke, so daß er sich bücken mußte, um darunter durchzukommen. Wie Boden und Wände bestand auch die Decke aus den gleichen, gewaltigen Steinquadern, aus denen die gesamte Pyramide errichtet worden war, und einige davon hatten sich offensichtlich gelockert. Einmal mußten sie über einen heruntergestürzten Steinquader klettern, der den Stollen fast völlig ausfüllte. Vielleicht, dachte Mike mit einem unguten Gefühl, ist diese Pyramide gar nicht so massiv, wie allgemein angenommen wird...
»Wohin führt dieser Gang?« drang Trautmans Stimme aus der Dunkelheit vor ihnen zu ihm. Lady Grandersmith antwortete: »Nicht zur Schatzkammer, wenn Sie das erwarten, Mister Trautman. Aber vielleicht zu etwas, was noch viel wertvoller ist. « Trautman seufzte, ersparte es sich aber, eine weitere Frage zu stellen. Schweigend gingen sie weiter. Sie mußten längst nicht nur den Boden wieder erreicht haben, sondern sich bereits tief unter dem Fundament der Pyramide befinden, bevor es vor Mike endlich wieder hell wurde: Trautman, Singh und Lady Grandersmith hatten angehalten und hielten die Lampen hoch. Mike atmete unwillkürlich auf.
Dabei machte er eine erstaunliche Entdeckung. Die Luft in dem schmalen, vielleicht seit Jahrtausenden verschlossen gewesenen Gang war sehr schlecht; so trocken und bitter, daß er ununterbrochen das Gefühl hatte, husten zu müssen. Jetzt aber wurde sie mit einem Male besser. Es war kühler geworden, und es
roch... feucht.
Er ging schneller, erreichte endlich das Ende des schmalen Schachtes und blieb überrascht stehen. Sie befanden sich in einer großen, sicherlich zwanzig Meter hohen und vielleicht fünf- oder sechsmal so breiten, ovalen Höhe. Soweit das Licht der drei Petroleumlampen reichte, bestanden die Wände hier nicht mehr aus steinernen Quadern, sondern aus gewachsenem Felsgestein, das nur hier und da künstlich geglättet worden war. Auf den so entstandenen, zumeist rechteckigen Flächen waren kunstvolle Reliefs herausgemeißelt worden, die noch deutliche Spuren von Bemalung aufwiesen. Sie stellten Szenen aus dem
Leben des alten Ägypten dar, wie Mike sie aus Büchern und gelegentlichen Museumsbesuchen kannte. »Großer Gott!« flüsterte Juan. »Was ist das?« »Ich fürchte, das weiß niemand«, antwortete Lady Grandersmith leise. Ihre Stimme hatte einen sonderbaren, lang nachhallenden Klang, der Mike verriet, daß die Höhle wahrscheinlich wesentlich größer war, als sie im Schein der drei Lampen erkennen konnten. »Aber ich habe eine Theorie. Kommt mit!« Sie hob ihre Lampe und ging langsam weiter. Mike und die anderen folgten ihr. Mike sah sich mit heftig klopfendem Herzen um. Er entdeckte weitere Reliefarbeiten. Hier und da waren Nischen in die Wände gehauen, die zwar allesamt leer waren, in denen sich aber früher sicherlich irgend etwas befunden hatte. Vielleicht goldene Statuen? dachte er. Vielleicht täuschte sich Lady Grandersmith ja, und dies war tatsächlich einmal die sagenumwobene Schatzkammer der Cheopspyramide gewesen. Aber wenn, wohin waren dann all die Kostbarkeiten verschwunden? Eines dieser Reliefs erweckte Mikes besondere Aufmerksamkeit. Es paßte nicht so recht zwischen die anderen, auch wenn es sichtlich mindestens genauso alt war. Es stellte einen Kreis dar, von dessen Rändern dünne, gezackte Linien nach außen liefen, wie eine krakelig gemalte Sonnenscheibe. In seinem Zentrum war ein wirres Durcheinander von Linien, Strichen und dünnen Umrissen, die auf eine fast unheimliche Weise ineinanderzufließen schienen, fast alsbewegtensie sich. Mike blieb nicht stehen, um das Bild näher zu betrachten, aber er hatte das Gefühl, es schon einmal gesehen zu haben. Aber wo? Sie gingen etwa zwanzig Meter weit, ehe Lady Grandersmith wieder stehenblieb und auf etwas deutete, was Mike im ersten Moment vorkam wie ein Haufen