»Wie Serena?«
»Zweitausendsechshundert Meter«, sagte Juan. »Der Meeresboden!«
Mit einem einzigen Satz waren sie alle bei ihm. Mike war insgeheim froh, daß er nicht weiterreden mußte -Bens letzte Frage hätte er nämlich verneinen müssen. Hasim und Yasal hatten nichts, aber auch gar nichts mit den Atlantern zu tun, das wußte er einfach. Aber die einzige andere Erklärung, die ihm einfiel, wäre noch viel phantastischer gewesen. Tatsächlich hatte sich die Anzeige bei einigen Instrumenten verändert. Für einen Außenstehenden wäre es weiter nichts als ein grünliches Blitzen und Zucken gewesen, aber Mike erkannte sofort, daß Juan die Wahrheit sagte: Sie näherten sich dem Meeresboden. Unter ihnen waren vielleicht noch fünfzig Meter Wasser. »Die Scheinwerfer«, sagte Trautman. »Schalt sie ein. « Juan gehorchte. Direkt vor dem Fenster leuchtete ein meterdicker, weißer Strahl auf, der schräg nach unten gerichtet war. Im ersten Moment konnten sie in dem grellen Licht nichts erkennen außer einem sachten Flimmern, dann tauchte der Grund des Ozeans in der Helligkeit auf. Es gab in dieser Wassertiefe kaum noch Leben -jedenfalls keines, das auf dem Meeresgrund Fuß gefaßt hätte. Unter ihnen lag nur nackter, fast weißer Sand, aus dem hier und da ein Felsbuckel oder ein gezackter Grat ragte.
Juan sagte: »Wir ändern den Kurs. Und das Schiff wird langsamer. «
Zumindest draußen war davon nichts zu erkennen. Der Scheinwerferstrahl tastete weiter über den sandigen Meeresboden, der jetzt keine zehn Meter mehr unter ihnen lag und verlor sich plötzlich in jäh aufklaffender Schwärze. Nicht nur Mike fuhr erschrocken zusammen.
»Was ist das?« keuchte Ben.
»Eine Schlucht«, antwortete Juan. »Sie ist... « Er stockte. »Ja?« fragte Trautman.
»Die Instrumente zeigen nichts an«, sagte Juan nervös. »Sie muß unvorstellbar tief sein. « »0 nein«, flüsterte Ben. »Wenn die TITANIC dort unten liegt, dann gute Nacht. «
Mike wagte gar nicht daran zu denken. Das Schiff zitterte und bebte jetzt ununterbrochen, und aus dem anfänglich vereinzelten Knirschen und Mahlen war ein fast ununterbrochenes Knistern geworden. Noch einmal Tausende von Metern tiefer zu tauchen,konntensie nicht aushalten. Und trotzdem steuerte Hasim das Schiff direkt in diesen Abgrund hinein. »Hasim, bitte!« sagte Trautman. »Wenn... wenn wir dort hinunter müssen, dann tauchen Sie noch einmal auf und lassen Sie die Kinder von Bord. Singh und ich werden mit Ihnen kommen, das schwöre ich. « Hasim sah ihn auf eine sehr sonderbare Weise an, drehte sich wieder zu den Kontrollinstrumenten herum und drückte eine Taste.
»Wir sinken!« keuchte Juan. »Großer Gott, wir tauchen fast senkrecht! Er bringt uns um!« Mike sah aus den Augenwinkeln, wie Singh sich spannte, um sich in einer verzweifelten Bewegung auf Hasim zu werfen -doch da fiel der Scheinwerferstrahl wieder auf weißen Sand. »Singh! Nicht!« schrie Mike.
Singh erstarrte mitten in der Bewegung, sah Mike an und folgte dann dessen Blick.
Sie hatten das jenseitige Ende der Schlucht erreicht. Unter ihnen gähnte noch immer bodenlose Schwärze, aber schräg vor der NAUTILUS war wieder der Meeresgrund zu erkennen, der auf dieser Seite wohl ein gutes Stück tiefer lag als auf der anderen.
Und nicht sehr weit von diesem Abgrund entfernt, oben an Land, kaum einen Steinwurf entfernt, befand sich das Wrack des gewaltigsten Schiffes, das Mike jemals zu Gesicht bekommen hatte.
Die NAUTILUS lag auf dem Meeresgrund. Das Stampfen der Motoren hatte endlich aufgehört, und selbst das unheimliche Knistern und Knirschen, mit dem der Wasserdruck gegen die stählernen Wände des Schiffes anrannte, war leiser geworden. Sie standen dichtgedrängt vor dem Bullauge und blickten zu dem gigantischen Berg aus Stahl hinauf, der über der NAUTILUS emporragte.
Die TITANIC hatte ihren Namen zu Recht. Die NAUTILUS war zwei- oder dreimal über das Schiff hinweggefahren und hatte es mit ihren Scheinwerferstrahlen abgetastet, und es war Mike jedesmal größer vorgekommen. Die NAUTILUS war gewiß nicht klein, aber gegen die TITANIC war sie ein lächerlicher Zwerg, der bequem mehrmals darin Platz gefunden hätte. Mike versuchte vergeblich, sich vorzustellen, welche unglaublichen Gewalten nötig gewesen waren, um dieses Schiff zu versenken, noch dazu in so kurzer Zeit. Es war eine der schlimmsten Katastrophen der Seefahrt gewesen, der die TITANIC zum Opfer gefallen war; zusammen mit den allermeisten ihrer Passagiere und dem Großteil der Besatzung.
Das gespenstische war, daß das Schiff kaum beschädigt zu sein schien. Der gewaltige Riß, der den Rumpf fast auf halber Länge aufgerissen hatte, war von ihrer Position aus nicht zu sehen. Einer der Schornsteine war abgerissen, als das Schiff sank, ein Teil der Reling verschwunden und einige Aufbauten durcheinandergewirbelt, aber ansonsten wirkte das Schiff beinahe unversehrt. Es gehörte nur ein wenig Phantasie dazu, sich vorzustellen, daß es sich plötzlich vom Meeresgrund heben und seinen Weg fortsetzen würde, als wäre nichts geschehen.
»Unheimlich«, flüsterte Ben in die Stille hinein, die von ihnen allen Besitz ergriffen hatte. Mike schätzte, daß sie seit etwa zehn Minuten hier standen und das Schiff anstarrten, wenn nicht länger. »Was ist unheimlich?« fragte Chris. »Das Schiff«, antwortete Ben. »Ich frage mich, wo all die Toten sind. Es waren doch über tausend. « Mike fand die Bemerkung höchst überflüssig, aber Trautman antwortete trotzdem. »Die, die an Deck waren, hat die Strömung weggetragen. Aber die meisten waren wohl unter Deck. «
»Und da sind sie wohl noch«, fügte Ben finster hinzu. »Ich verstehe. Das kann ja heiter werden. « Mike sah ihn fast wütend an. Ben sprach nur aus, was sie alle wußten -nämlich daß die Aufgabe, hinüber zu dem Wrack zu gehen und seine Ladung zu bergen, wahrscheinlich das Schlimmste werden würde, was sie jemals erlebt hatten -aber er hätte viel darum gegeben, diesen Gedanken wenigstens noch für ein paar Minuten verdrängen zu können.
»Mich kriegen jedenfalls keine zehn Pferde dort rüber«, fuhr Ben nach einigen Sekunden fort. Er schüttelte sich.
»Das ist auch nicht nötig«, sagte Trautman. »Singh und ich werden gehen. Wir haben schon alles besprochen. « Niemand protestierte. Mike gehörte normalerweise nicht zu denen, die sich drückten, wenn es Arbeit zu tun gab, aber in diesem Fall war er sehr froh, daß ihm diese unangenehme Aufgabe erspart blieb. Die Vorstellung, durch ein Schiff voller Toten zu schwimmen, war einfach entsetzlich. Er warf Trautman einen raschen, dankbaren Blick zu.
Doch es sollte anders kommen. Mike schrak aus seinen Betrachtungen hoch, als er das Geräusch der Tür hörte, und drehte den Kopf. Es war Yasal, der hereinkam. Er tauschte einen raschen Blick mit seinem Bruder, dann ging er mit schnellen Bewegungen auf sie zu und deutete nacheinander auf Singh und Mike. »Was soll das?« fragte Trautman. Yasal wiederholte seine Geste mit sichtbarer Ungeduld. »Ich glaube, er will, daß wir ihn begleiten«, sagte Singh. »Wir? Aber... aber wieso denn?« Mike spürte, wie ihm ein eisiger Schauer über den Rücken lief. Er hatte das unangenehme Gefühl, die Antwort auf seine Frage zu kennen.
»Gehen wir besser«, sagte Singh, aber Trautman fiel ihm in den Arm.
»Wartet«, sagte er. Dann wandte er sich an Yasal. »Nehmt mich. Der Junge kann euch nicht helfen.Ichbegleite euch. «
Zum ersten Mal, seit Mike die beiden unheimlichen Beduinen kennengelernt hatte, antwortete einer von ihnen direkt auf eine Frage; wenn auch nur mit einem heftigen Kopfschütteln und einer neuerlichen, diesmal befehlenderen Geste in seine Richtung. Trautman wollte erneut auffahren, aber Mike war schneller. »Schon gut«, sagte er. »Ich gehe mit. Ich glaube nicht, daß er mir etwas tun will. « »Das gefällt mir nicht«, knurrte Trautman. Mir auch nicht, dachte Mike niedergeschlagen. Er ersparte es sich, das laut auszusprechen. Erneut überkam ihn ein Gefühl der Ohnmacht, das auf seine Weise fast schlimmer war als die Furcht, die er vorhin verspürt hatte. Aber er folgte Yasal wortlos, ebenso wie Singh.