Sie verließen den Salon und stiegen die kurze Treppe in den unteren Laderaum der NAUTILUS hinab. Yasal und Hasim hatten sich in den letzten Tagen oft hier zu schaffen gemacht, ihnen aber nicht gestattet, diesen Teil des Schiffes zu betreten, und jetzt sah Mike auch, warum: Sie hatten den großen Laderaum vollkommen ausgeräumt und eine sonderbare Konstruktion aus dünnen silberfarbenenen Metalldrähten errichtet, die eine Art Wabenmuster bildete und den vorhandenen Raum fast vollkommen beanspruchte. Der verbleibende Platz reichte gerade aus, um sich hindurchzuquetschen.
»Cheops scheint über eine Menge Schätze verfügt zu haben«, sagte Mike in dem schwachen Versuch, einen Scherz zu machen. Singh sah ihn nur irritiert an, und Mike bereute seine Worte. Im Grunde wußten sie alle längst, daß die Ladung, die sie aus der TITANIC bergen sollten, bestimmt nicht aus Gold und Silber bestand. Aber er hatte plötzlich das immer stärker werdende Gefühl, daß sie vielleicht noch viel phantastischer und bizarrer war, als er sich bisher auch nur hatte träumen lassen...
Aus Mikes unguter Vorahnung wurde Gewißheit, als sie ihr Ziel erreichten: die Bodenschleuse der NAUTILUS, eine kleine Tauchkammer, die gerade groß genug für zwei Personen war. Yasal machte eine entsprechende Geste, hineinzugehen, aber Mike schüttelte entschieden den Kopf.
»Ich bin doch nicht wahnsinnig!« sagte er. »Du weißt nicht, was du da verlangst! Die Taucheranzüge sind nicht für diesen Wasserdruck -« Yasal schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab, und Mike gab auf. Er war nicht einmal sicher, ob seine Behauptung tatsächlich der Wahrheit entsprach. Die Taucheranzüge, über die die NAUTILUS verfügte, waren der übrigen menschlichen Technik ebenso überlegen wie das Schiff selbst. Aber sie hatten sie niemals in dieser Tiefe ausprobiert, und Mike hatte auch keine Lust, am eigenen Leib herauszufinden, ob sie wirklich für einen Spaziergang in mehr als zweitausend Meter tiefem Wasser geeignet waren.
Yasal interessierte sich wenig dafür, wozu er Lust hatte oder nicht. Er wiederholte seine Aufforderung ein drittes Mal -und diesmal auf eine Weise, die eindeutig drohend wirkte -, und Singh und er gaben auf. Hintereinander quetschten sie sich in die kleine Tauchkammer und halfen sich gegenseitig dabei, die klobigen Anzüge anzulegen und die Sauerstoffflaschen zu montieren. Kurz bevor er das schwere Panzerschott über ihnen schloß, bedeutete Yasal ihnen, draußen auf ihn zu warten; die Kammer war nicht groß genug, um zu dritt hindurchzugehen.
»Witzbold«, murmelte Mike. »Was denkt er denn, wo wir hingehen werden?«
»Irgend etwas stimmt mit den Anzügen nicht«, erklang Singhs Stimme in Mikes Helm. Mike erschrak. »Wie?«
»Ich weiß auch nicht, was, aber irgendwie... « Singh suchte hörbar nach Worten. »Sie haben etwas damit gemacht. Vielleicht haben sie sie verändert, damit sie den Druck in dieser Tiefe aushalten. « Mike hoffte es inständig. Während das Wasser rings um sie herum allmählich höher zu steigen begann, versuchte er Singhs Anzug durch die Sichtscheibe seines Helmes genauer zu mustern. Ihm fiel kein Unterschied an den klobigen Anzügen auf, die jede Bewegung zu einer bewußten Anstrengung machten. Die runde Scheibe in dem schweren Messinghelm verlieh seinem Träger etwas Zyklopenhaftes. Dann fiel Mikedoch etwas auf: Über dem schwarzen, gummiähnlichen Material, aus dem der gesamte Anzug gefertigt war, war plötzlich... noch etwas. Mike konnte es in dem schwachen Licht im Inneren der Schleusenkammer nicht richtig erkennen, aber es schien etwas wie ein feines, mattschwarzes Netz zu sein.
»Unsere Freunde waren ziemlich fleißig, scheint mir«, sagte er.
»Ja. Und ich bete, daß sie gewußt haben, was sie tun«, antwortete Singh.
Das Wasser stieg rasch höher. Mittlerweile reichte es Mike bereits bis zur Hüfte. Er spürte die Kälte selbst durch das dicke Material des Taucheranzuges hindurch, aber von dem erwarteten Druck, der ihn eigentlich auf der Stelle hätte zermalmen müssen, war nichts zu fühlen. Das Wasser stieg höher, erreichte seine Schultern und überspülte schließlich seinen Helm. Nichts. Was immer Hasim und Yasal mit den Anzügen getan hatten, es wirkte.
Als die Kammer geflutet war, schalteten sie ihre Scheinwerfer ein und verließen die NAUTILUS durch die Bodenschleuse. Im ersten Moment umgab sie vollkommene Schwärze, in der selbst die beiden starken Scheinwerferstrahlen dünn und verloren wirkten, denn es gab nichts, worauf sie sie hätten richten können. Dann aber folgte er Singh aus dem Schatten der NAUTILUS heraus, und jetzt sahen sie das gigantische Schiff, das im Licht der großen Bugscheinwerfer des U-Bootes über ihnen emporragte. Von hier aus betrachtet, wirkte es noch gigantischer als aus der vermeintlichen Sicherheit des Salons heraus. Das Schiff schien jetzt tatsächlich zu einem Berg geworden zu sein, wenn auch zu einem stählernen, von Menschenhand gemachten Berg, der vierzig, fünfzig oder auch mehr Meter über ihnen emporragte und sich zu beiden Seiten weiter in die ewige Nacht des Meeresgrundes hinein erstreckte, als das Licht der Scheinwerfer reichte. Es war genau wie oben im Salon: Singh und er standen einfach stumm da und blickten das Schiff an, ohne sich zu rühren.
Ein sonderbares Gefühl überkam Mike, als sein Blick über die mehr als mannsgroßen Buchstaben glitt, die den Namen des Schiffes bildeten. TITANIC. Das Schiffwarein Titan. Es war der Stolz der Weltmeere gewesen - oder hätte es werden sollen, denn die Katastrophe hatte es bereits auf seiner Jungfernfahrt heimgesucht -, und es hatte als unsinkbar gegolten. Er fragte sich, ob einer der Gründe für die Katastrophe vielleicht die Anmaßung war, die in diesem Namen und diesem Schiff lag; eine Herausforderung an die Gewalten der Natur selbst, sich dem Willen des Menschen unterzuordnen.
Was für ein sonderbarer Gedanke. Er lächelte flüchtig darüber und rief sich selbst in die Wirklichkeit zurück, als Singh ihn an der Schulter berührte und auf die NAUTILUS deutete. Die Schleusenkammer öffnete sich wieder, und Yasal erschien. Mike hätte beinahe aufgeschrien. Nach allem bisher Erlebten hatte er geglaubt, daß ihn nichts mehr überraschen könnte, was mit Yasal und seinen Brüdern zusammenhing, aber das stimmte nicht. Yasal trat mit einem raschen Schritt aus der Schleuse. Sein schwarzes Gewand wehte in der Strömung wie
in einem unsichtbaren Wind. Er trug keinen Taucheranzug.
Für ein paar Sekunden weigerte sich Mike einfach, zu glauben, was er sah.
Sie befanden sich mehr als zweitausend Meter tief unter Wasser. Der Druck hier unten war so gigantisch, daß er selbst einen Panzerwagen zerquetscht hätte wie eine Konservendose, aber Yasal trug noch immer seinen schwarzen Burnus. Weder einen Anzug noch einen Helm oder gar eine Sauerstoffflasche.
»Das ist nicht möglich«, flüsterte Mike. »Ich... ich träume!«
»Wenn, dann träumen wir denselben Traum«, sagte Singh. Seine Stimme klang seltsam tonlos. Was er sah, schockierte ihn offensichtlich ebenso wie Mike. »Aber wie... wie kann denn das sein?« flüsterte Mike fassungslos. »Er muß doch atmen. Und der Druck... « Singh sagte nichts, und warum auch? Mike wußte die Antwort auf seine eigene Frage ja selbst. Was er schon seit einer geraumen Weile insgeheim vermutet hatte -jetzt war es zur Gewißheit geworden. Yasal und seine beiden Brüder waren keine Menschen.