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Sie brauchten eine gute halbe Stunde, um in die TITANIC hineinzugelangen. Die Anzüge schützten sie zwar zuverlässig vor dem Wasserdruck, aber sie machten jede Bewegung zu einer riesigen Anstrengung, und an Schwimmen war darin gar nicht zu denken, so daß sie ein ganzes Stück weit an dem Schiff entlanggehen mußten, ehe sie endlich einen Zugang fanden das Ende des gewaltigen Risses, der den Rumpf gespalten hatte. Er lag gerade noch im Bereich der Scheinwerferstrahlen der NAUTILUS, und hier sahen sie die Zerstörung, die sie bisher vermißt hatten: Die fast zehn Zentimeter dicken Stahlplatten, aus denen der Rumpf der TITANIC gefertigt war, waren zerrissen wie dünnes Pergament, und die dahinterliegenden Räume bildeten ein einziges, gewaltiges Chaos aus Trümmern und zermalmtem Metall.

Mikes Blick tastete sich an der klaffenden Wunde im Leib der TITANIC entlang, bis er sich in der Dunkelheit verlor. Seine Gedanken von gerade schossen ihm noch einmal durch den Kopf. Ob es nun eine höhere Gerechtigkeit gewesen war oder nur ein Zufall - der Anblick dieser unvorstellbaren Zerstörung machte ihm wieder einmal klar,wiegewaltig die Kräfte der Natur waren. Ganz egal, zu welchen technischen Leistungen die Menschheit einst vielleicht in der Lage sein würde, gegen die Gewalten der Natur würde sie immer ein Nichts bleiben. Seltsamerweise erschreckte ihn dieser Gedanke jedoch nicht, sondern beruhigte ihn eher; auch wenn er selbst nicht sagen konnte, warum. »Dort drüben können wir hinein. « Singh berührte ihn an der Schulter und deutete mit der anderen Hand auf Yasal, der bereits ein Stück vorangegangen war und auf eine Stelle zuhielt, an der die TITANIC weit genug in den Schlamm eingesunken war, daß der Riß fast den Boden berührte. Mike schauderte erneut. Auch nach einer halben Stunde war der Anblick des Beduinen, der mit wehendem Gewand vor ihnen über den Meeresboden marschierte, noch so unwirklich wie zuvor. Aber er folgte Singh und Yasal wortlos und so schnell er konnte.

Trotz allem wurde es eine anstrengende Kletterei, ins Innere des Schiffes zu kommen. Der Riß war auch hier hoch genug, um bequem hindurchzuklettern, aber Mike mußte aufpassen, seinen Anzug nicht an den scharfen Metallkanten zu beschädigen, und jeder weitere Schritt in das Schiff hinein wurde zu einem lebensgefährlichen Abenteuer. Der Boden stand ein wenig schräg, so daß er aufpassen mußte, nicht die Balance zu verlieren, und war mit Trümmerstücken nur so übersät. Das Schiff war beinahe im NeunzigGrad-Winkel gesunken, ehe es auf dem Meeresgrund aufgeschlagen war, und bei der höllischen Fahrt in die Tiefe war alles, was nicht niet-und nagelfest war, losgerissen und durch das Wasser gewirbelt worden.Überall lagen zerborstene Möbel, losgerissene Türen und zertrümmerte Maschinenteile. Sie durchquerten einige Räume, in denen sie regelrecht über Trümmerberge hinwegklettern mußten, und einmal mußten sie sogar ein Stück des Weges zurückgehen, weil es einfach kein Durchkommen gab.

Und trotz allem schien Yasal mit traumwandlerischer Sicherheit seinen Weg zu finden. Mike hatte den sicheren Eindruck, daß er noch viel schneller gewesen wäre, hätte er nicht auf sie Rücksicht genommen. Er begann sich allmählich zu fragen, warum sie überhaupt hier waren -wie die Dinge bisher lagen, behinderten sie Yasal eher, statt ihm zu helfen. »Das ist seltsam«, sagte Singh plötzlich. »Was ist seltsam?«

Singh schwieg einen Augenblick. »Erinnert Ihr Euch, Herr«, sagte er dann. »Wir haben vorhin darüber gesprochen: die Toten. Die ertrunkenen Passagiere und die Besatzung. «

Und ob sich Mike daran erinnerte. Erneut fröstelte er, und diesmal lag es eindeutig nicht an der eisigen Kälte, die allmählich durch seinen Anzug zu kriechen begann. Er sah sich um, fast als rechne er damit, ganze Legionen von Toten durch das klare Wasser auf sich zutreiben zu sehen. »Wo sind sie alle?« fragte Singh.

Mike blickte ihn verwirrt an - und riß plötzlich die Augen auf. Singh hatte Recht. Sie waren bereits tief in den Rumpf des Schiffes eingedrungen und durchquerten gerade etwas, was vielleicht einmal ein Speisesaal gewesen war, aber sie hatten bisher keinen einzigen Leichnam gesehen!

»Vielleicht... vielleicht sind sie abgetrieben worden«, sagte er stockend.

»Hier drinnen gibt es keine Strömung. « Mike ersparte es sich, seinen zweiten Gedanken auszusprechen: nämlich daß die Toten einfach von Raubfischen gefressen worden waren. Sie hatten bisher nicht einmal eine Spur von Leben gesehen, geschweige denn einen Raubfisch.

»Unheimlich«, murmelte er. Aber zugleich war er auch erleichtert. Ihr Ausflug in dieses gigantische Wrack war schlimm genug, aber vielleicht blieb ihnen das Allerschlimmste erspart. Aber die Sache war sehr rätselhaft. Und es blieb dabei. Sie durchquerten den Saal und stiegen eine große Treppe hinab, folgten Yasal durch eine vollkommen verwüstete Küche und anschließend drei, vier weitere Räume, deren ursprünglicher Bestimmungszweck nicht einmal mehr zu erraten war, aber sie fanden keine Toten. Es war, als wäre das Schiff leer gewesen, als es sank. Oder als hätte jemand die Toten geholt. Schließlich betraten sie die Laderäume des Schiffes. Das Chaos war hier noch wesentlich größer, so daß es bald selbst Yasal schwerfiel, einen Weg für sie zu finden. Mike sah immer öfter auf die Uhr. Der Sauerstoffvorrat in ihren Anzügen war nicht unbeschränkt. Sie hatten die Hälfte davon fast verbraucht und würden sich bald auf den Rückweg machen müssen. Gerade als er zu überlegen begann, wie er Yasal auf diesen Umstand aufmerksam machen konnte, erreichten sie ihr Ziel. Sie hatten einen völlig verheerten Lagerraum voller großer, fast ausnahmslos aufgeplatzter Kisten durchquert, und vor ihnen lag ein großes metallenes Tor, offensichtlich der Durchgang zu einem weiteren Lager. Yasal gebot ihnen mit einer entsprechenden Geste, zurückzubleiben, und machte sich allein einen Moment lang daran zu schaffen. Mike konnte nicht genau erkennen, was er tat, aber plötzlich blitzte ein grelles weißes Licht auf, und schon im nächsten Augenblick öffnete sich die Tür einen Spaltbreit -und Singh und er hatten ihre liebe Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Ein ungeheurer Sog ergriff sie mit einem Mal und zerrte sie auf die Tür zu. Mike griff haltsuchend um sich, fand irgend etwas, woran er sich klammern konnte, und sah aus den Augenwinkeln, daß es Singh nicht besser erging. Es dauerte nur einige wenige Sekunden, bevor sich das tobende Wasser wieder beruhigte, aber diese Sekunden beanspruchten seine gesamte Kraft.

»Was... was war denn das?« keuchte er, als es endlich vorbei war und er es vorsichtig wagte, seinen Halt loszulassen.

»Der Lagerraum muß noch voller Luft gewesen sein«, antwortete Singh. »Yasal hat irgendwie die Tür aufgesprengt. «

Mit klopfendem Herzen bewegte sich Mike auf die Tür zu, die nun weit offenstand. Er fragte sich, was sie dahinter finden

würden -Kisten voller Schätze, wie Trautman und Ben

anzunehmen schienen, oder etwas ganz, ganz anderes?

Das erste, was er im Licht seines Scheinwerfers sah, war ein Ballen weißer Stoff. Er war durch den plötzlichen Wassereinbruch offensichtlich losgerissen worden und wirbelte sich überschlagend durch den Raum, und es war nicht der einzige. Hier und da trieben weitere der gut mannslangen, weißen Bündel dahin, und auf dem Boden stapelten sich gleich Dutzende, wenn nicht Hunderte der sonderbaren Gebilde. Mike ließ den Strahl seines Scheinwerfers ein paarmal durch den Lagerraum gleiten, der fast die Abmessungen einer kleinen Turnhalle hatte. Ein Teil der verbliebenen Luft hatte sich unter der Decke gesammelt und bildete einen silbernen Himmel aus Millionen zerbrochener Halbmonde. Das und die weißen Ballen waren die einzigen Dinge, die sich in dem Raum befanden. »Was ist denn das?« fragte Mike.»Dassoll der Schatz der Cheopspyramide sein?«