Singh schwieg. Er bewegte sich schwerfällig weiter in den Raum hinein und wollte sich nach einem der Ballen bücken, aber er kam nicht dazu, die Bewegung zu Ende zu fuhren. Yasal war mit einem blitzschnellen Schritt neben ihm und riß ihn so grob zurück, daß er fast die Balance verloren hätte.
»Ja«, sagte Mike säuerlich. »Kein Zweifel. Dasistder Schatz. « Während Singh mit wild rudernden Armen sein Gleichgewicht wiederfand, ließ sich Mike behutsam in die Hocke sinken, um einen der seltsamen »Stoffballen« genauer in Augenschein zu nehmen. Yasal beobachtete ihn mißtrauisch,
versuchte aber nicht, ihn davon abzuhalten. Offensichtlich
wollte er nur nicht, daß sie die Bündel berührten.
Mike sah jetzt, daß ihn sein erster Eindruck getäuscht hatte. Es war kein Stoffballen, und es war auch nicht rund, wie es ein solcher gewesen wäre, sondern sechseckig. Wo hatte er diese Form schon einmal gesehen? Außerdem war es gar kein Stoff. Es war...
Mike suchte vergeblich nach einer Bezeichnung für das, was ersah.Es ähnelte nichts, was er jemals zu Gesicht bekommen hatte. Mal schimmerte es wie Metall, dann schien es wie Stoff zu sein, etwas wie ein unendlich feines Gespinst vielleicht, gegen das selbst die kostbarste Seide wie grobes Sackleinen erschienen wäre, und es wirkte zugleich sehr zerbrechlich wie äußerst massiv. Nach dem, was Singh widerfahren war, wagte er es nicht, es zu berühren, aber er war sicher, daß dieser sonderbare Kokon so stabil wie Stahl war. »Das muß es sein, wonach sie gesucht haben«, sagte er überflüssigerweise. »Es scheint nicht beschädigt zu sein. Offensichtlich ist der Laderaum luftdicht geblieben. Die ganze Zeit über. Was... was kann das sein?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Singh. »Aber ich frage mich, wie wir es an Bord der NAUTILUS bekommen sollen. «
Mike sah ihn fragend an.
»Wir haben fast eine Stunde gebraucht, um hierherzukommen«, antwortete Singh mit einer erklärenden Geste. »Und wir brauchen garantiert länger für den Rückweg, selbst wenn diese Bündel so leicht sind, wie es scheint. Wißt Ihr, wie viele es sind?« Mike sah sich ratlos um und schüttelte den Kopf.
»Sehr viele«, sagte er kleinlaut. »Dutzende. « »Wohl eher Hunderte«, verbesserte ihn Singh. »Wir würden Wochen brauchen, um sie alle auf die NAUTILUS zu schaffen. Und so viel Zeit haben wir nicht. « Mike gestand sich ein, daß er auf diesen Gedanken noch gar nicht gekommen war. Bisher waren sie ja immer davon ausgegangen, nur einige Kisten aus dem Wrack der TITANIC holen zu müssen; eine Aufgabe, die mit zwei oder drei Expeditionen hier herunter sicher zu bewältigen gewesen wäre. Aber das hier... »Das ist unmöglich!« sagte er überzeugt. Singh nickte betrübt. Die Bewegung war hinter der Scheibe seines Helmes kaum zu erkennen, aber sie versetzte Mike trotzdem einen gewaltigen Schrecken. Seine Worte hatten keinen anderen Sinn gehabt, als Singh widersprechen zu lassen. Er hatte einfach vorausgesetzt, daß der Inder wie immer schon einen Ausweg parat haben würde. Diesmal schien es nicht der Fall zu sein. Und das bedeutete, daß sie ihre Aufgabe unmöglich in der ihnen zur Verfügung stehenden Zeit bewältigen konnten.
Und das wiederum bedeutete, daß er Serena und Astaroth niemals wiedersehen würde. Verzweifelt sah er hoch und blickte sich nach Yasal um. Er entdeckte den Beduinen an der gegenüberliegenden Seite des Raums. Yasal hatte vor der Wand Aufstellung genommen und beide Arme in einer seltsamen, beinahe beschwörend anmutenden Geste erhoben. Er stand vollkommen reglos da. »Was tut er da?« murmelte Mike. Es sah beinahe aus, als wolle Yasal die Wand... beschwören? »Was um alles in der Welt -« Mike brach ab und schloß geblendet die Augen, aber es nutzte nicht viel. Zwischen Yasals Fingern war jäh ein grelles, bläulich-weißes Licht aufgeflammt; ein Schein, ganz ähnlich dem, den sie gerade beobachtet hatten, als er die Tür aufsprengte, nur ungleich heller. So rasch es in dem schwerfälligen Anzug möglich war, hob Mike beide Hände vor das Sichtfenster und wandte sich ab. Trotzdem blitzte und funkelte es weiterhin so grell und schmerzhaft vor seinen Augen, daß er absolut nichts sehen konnte. Erst nach einer ganzen Weile wagte er es wieder, den Kopf zu heben und vorsichtig in die Richtung zu blinzeln, wo Yasal gestanden hatte. Er war noch immer da, aber die Wand vor ihm war zum größten Teil verschwunden. Im ersten Moment glaubte Mike, seine geblendeten Augen würden ihm einen Streich spielen. Er blinzelte ein paarmal, aber es blieb dabei: Genau dort, wo der Beduine stand, gähnte ein gut zweieinhalb Meter messendes, kreisrundes Loch in der massiven Stahlwand des Rumpfes, dessen Ränder noch dunkelrot glühten. Kochendes Wasser und silberne Luftblasen stoben in einem wilden Sog nach draußen.
»Er... er hat ein Loch in die Wand gebrannt!« murmelte Mike fassungslos. »Aber... aber wie hat er das gemacht? Er hat doch nichts mit hierhergebracht. Ich meine, kein Werkzeug, kein... « Er sprach nicht weiter. Offensichtlich verfügte Yasal -und sicher auch Hasim -über Fähigkeiten und Kräfte, die an Zauberei grenzten.
Yasal winkte ihnen zu und bückte sich dann nach einem der weißen Kokons. Ohne sichtbare Anstrengung hob er ihn hoch und versetzte ihm einen sachten Stubs, so daß er durch das Loch in der Schiffswand hindurchglitt und sich draußen sanft auf den Meeresgrund herabsenkte. Eine Wolke aus beigeweißem Sand stob hoch und verteilte sich in weitem Umkreis im Wasser, ehe sie wieder zu sinken begann. Yasal deutete auf die übrigen Ballen, drehte sich dann herum und sprang nach draußen.
»Das war deutlich«, sagte Singh. »Offenbar hat er nichts mehr dagegen, daß wir die Dinger anfassen. Kommt, Herr -beeilen wir uns. « Mike und er machten sich wortlos an die Arbeit. Sie konnten von hier aus die NAUTILUS sogar sehen. Das Schiff lag wie ein stählerner Riesenfisch nicht weit entfernt, allerdings so, daß ihre Position und das, was sie taten, vom Salon aus oder auch dem Turm, der ja ebenfalls über Fenster verfügte, nicht zu sehen war. Mike glaubte keine Sekunde lang daran, daß das Zufall war. Sie bugsierten ein knappes Dutzend der sechseckigen weißen Behältnisse nach draußen, ehe Yasal ihnen bedeutete, daß es genug war, dann verließen sie die TITANIC auf dieselbe Weise wie der Beduine zuvor. Yasal mußte sie nicht eigens auffordern, jeweils eines der Bündel zu nehmen und zur NAUTILUS zu tragen. Zumindest dieser Teil der Bergungsaktion war Singh und Mike vollkommen klar. Mike war mittlerweile sicher, daß Yasal jeden Schritt und jeden Handgriff, den sie taten, genau vorausgeplant hatte.
Sie trugen die drei Behälter zur NAUTILUS und verstauten sie aufrecht nebeneinander in der Schleusenkammer, dann kehrten sie zurück, um die nächsten drei zu holen, und noch einmal und schließlich ein letztes Mal. Nachdem sie den Weg insgesamt viermal zurückgelegt hatten, bedeutete ihnen Yasal, daß es genug sei.
Mike konnte ihm nur beipflichten. Während sie darauf warteten, daß das Schleusentor sich wieder öffnete und sie selbst an Bord der NAUTILUS gehen konnten, sah er nervös auf die Uhr. Seiner Schätzung nach konnte der Sauerstoffvorrat in ihren Flaschen allerhöchstens noch für ein paar Minuten reichen. Ihre Nerven wurden auf eine harte Probe gestellt. Es schien endlos zu dauern, bis die Schleuse erneut geöffnet wurde, und noch länger, bis sie sich hineingequetscht hatten und das Wasser abzufließen begann. Die Luft, die in Mikes Helm strömte, war jetzt schlechter geworden; sie schmeckte bitter und verbraucht. Er wartete gerade so lange, bis das Wasser bis an seine Schultern abgesunken war, ehe er sich mit einer hastigen Bewegung den Helm vom Kopf riß und gierig ein-und ausatmete.