Keinen Augenblick zu früh. Das Führerhaus des Wagens krachte gegen die Wand und schlingerte funkensprühend daran entlang. Nur einen Sekundenbruchteil später, und Singh wäre...
Nein. Mike, der von dem Anprall wie alle anderen von den Füßen gerissen worden war, arbeitete sich in die Höhe und blickte direkt in Singhs schreckensbleiches Gesicht.
»Danke, Herr«, keuchte der Inder. »Ihr habt mir das Leben gerettet. «
Damit steht es ungefähr fünfundzwanzig zu eins, dachte Mike. Er hatte längst aufgehört zu zählen, wie oft Singhihmdas Leben gerettet hatte. »Trautman!« schrie er. »Was ist da vorne los?!«
Für das wilde Hinundherschaukeln des Wagens gab es eigentlich nur eine einzige Erklärung: Wahrscheinlich lieferten sich Trautman und der Fahrer gerade eine wilde Rangelei -die durchaus mit ihrer aller Tod enden konnte, denn der Wagen wurde noch schneller. »Mike!« brüllte Ben von hinten. Seine Stimme schnappte fast über. »Tu was! Wir müssen den Wagen anhalten! Sieh doch!«
Mike sah in die Richtung, in die Bens ausgestreckte Hand wies -nicht weit vor ihnen endete die Straße vor einer zwei Stockwerke hohen Mauer mit einem geschlossenen Tor!
Es war zu spät, um noch irgend etwas zu unternehmen -alles, was ihm noch blieb, war, entsetzt die Arme über den Kopf zu schlagen und sich auf den Anprall vorzubereiten.
Der Wagen krachte wie eine Kanonenkugel gegen das Tor und zerfetzte es, als bestünde es aus dünnem Papier, und für eine einzige, scheinbar endlose Sekunde schien die Welt nur noch aus Schreien, wirbelnden Trümmern und auseinanderbrechendem Metall zu bestehen. Ein unvorstellbarer Schlag ließ das gesamte Gebäude in seinen Grundfesten erbeben, und Mike fühlte sich wie von einer unsichtbaren Faust gepackt und in die Höhe gerissen. Noch während der Wagen durch das zerberstende Tor schoß, wurden Mike und alle anderen in hohem Bogen von der Ladefläche geschleudert. Wahrscheinlich rettete ihnen das das Leben. Mike überschlug sich ein paarmal hintereinander, ehe er liegenblieb, aber er sah trotzdem, wie der Wagen, eingehüllt in einen Regen aus durcheinanderfliegenden Ziegeln und Metallteilen, weiter in das Haus hineinschoß und dann mit fast unverminderter Wucht gegen die jenseitige Wand prallte. Was vom Führerhaus noch übrig war, verwandelte sich sofort in einen Schrotthaufen. Der Wagen wurde durch die Wucht des Aufpralles ein Stück
zurückgeschleudert, neigte sich zur Seite und kippte schließlich
um.
»Trautman!« keuchte Mike. »Um Gottes willen -Trautmann!!!«
Die Angst um seinen väterlichen Freund ließ ihn alles andere vergessen. Er sprang in die Höhe und raste auf den umgestürzten Lastwagen zu. Dabei bekam er noch mit, wie Singh hinter ihm hochkam und ebenfalls zu laufen begann. Vor seinem geistigen Auge sah er ein schreckliches Bild: Trautman, der tot im Wrack des Führerhauses lag, zerschmettert durch den gewaltigen Aufprall, den kein Mensch überlebt haben konnte. Singh und er mußten den Wagen umrunden, um an die zerbeulte Beifahrertür zu gelangen, und gerade, als Mike sie aufreißen wollte, ertönte ein metallisches Reißen, und sie wurde von innen aufgestoßen. Alles ging so schnell, daß er im Grunde nur einen Schatten sah. Etwas -irgend etwas, nicht Trautman! tauchte in einem Wirbel aus Schwarz aus dem Wagen auf, fetzte mit einer gewaltigen Bewegung die kaputte Tür vollends aus den Angeln und raste so schnell zwischen Singh und ihm hindurch, daß sie nicht einmal Gelegenheit bekamen, es richtig zu sehen; geschweige denn, danach zu greifen. Irgend etwas Kaltes schien ihn zu streifen, aber vielleicht war das das falsche Wort: es berührte Mike nicht wirklich, sondern schien vielmehr seine Seele zu streifen...
Mike verscheuchte den Gedanken, rannte weiter und zog sich mit einer hastigen Bewegung an dem zertrümmerten Führerhaus in die Höhe, um einen Blick in sein Inneres zu werfen.
Trautman hockte mit blutüberströmtem Gesicht und sichtbar benommen auf dem Boden, aber er war am Leben, und er schien nicht einmal sehr schwer verletzt zu sein, denn als Mike die Hand nach ihm ausstreckte und Anstalten machte, zu ihm in den Wagen zu klettern, schüttelte er hastig den Kopf und begann mit beiden Händen zu gestikulieren, in denen er etwas Buntes hielt.
»Der Fahrer!« sagte er. »Schnappt euch den Kerl! Schnell!«
Mike starrte ihn eine halbe Sekunde lang völlig verwirrt an. Erst dann sah er, daß Trautman allein im Wagen war -und daß er nichts anderes als die Fetzen eines bunten Kaftans in den Händen hielt. Was Singh und ihn fast von den Füßen gerissen hätte, war nichts anderes als der Lkw-Fahrer gewesen! »Schnappt ihn euch!« schrie Trautman noch einmal. »Los doch! Er darf nicht entkommen!« Das wirkte. Mike fuhr herum und hielt nach dem Schatten Ausschau, der aus dem Wagen gesprungen war. Er sah gerade noch, wie dieser durch eine schmale Tür in einer der Seitenwände verschwand. Seltsamerweise konnte er ihn auch jetzt nicht richtig erkennen. Alles, was er sah, war etwas Dunkles, Wirbelndes, das gar keine richtige Form zu haben schien. Dann war es verschwunden, und die Tür fiel mit einem dumpfen Knall ins Schloß.
»Hinterher!« befahl Mike. Singh war bereits herumgefahren und setzte mit ein paar großen Sprüngen hinter dem Fahrer her. Noch bevor Mike vom Wagen heruntergesprungen war, hatte er die Tür erreicht und aufgerissen.
»Singh!«schrie Mike.»Nicht! Warte auf mich!«Er wußte selbst nicht, warum er das rief, er brauchte sich bestimmt keine Sorgen um Singh zu machen -der Inder war nicht nur sein Freund und Leibwächter, sondern auch einer der stärksten Männer, die Mike je kennengelernt hatte, auch wenn man ihm dies auf den ersten Blick nicht ansah. Er war ein Sikh, ein Mitglied der alten Kriegerkaste Indiens, die überall auf der Welt für ihren Mut und ihre Tapferkeit bekannt war. Und trotzdem... Es hatte mit dem Schatten zu tun, den er kaum richtig gesehen hatte. Irgend etwas an diesem Schatten war unheimlich gewesen; auf eine seltsame, kaum in Worte zu fassende Weisefalsch...Singh reagierte nicht auf Mikes Schrei, sondern verschwand mit einem gewaltigen Schritt durch die Tür. Mike rannte, so schnell er konnte, und erreichte den Durchgang kaum eine Sekunde nach dem Inder. Trotzdem konnte er Singh nicht mehr sehen -der Inder war bereits eine ausgetretene Steintreppe hinuntergehetzt, die unmittelbar hinter der Tür begann und sich bereits nach wenigen Stufen in undurchdringlicher Finsternis verlor. Mike konnte bloß die Schritte Singhs irgendwo unter sich hören.
Etwas an dieser Dunkelheit erschreckte ihn so sehr, daß er abrupt stehenblieb und für ein paar Sekunden zögerte weiterzulaufen. Es war, als wäre dort vor ihm nicht nur Dunkelheit, nicht nur die Abwesenheit von Licht, sondern die Anwesenheit von etwas anderem, Unbeschreibbarem, das das Tageslicht aufgesogen hatte und auch ihn verschlingen würde, wenn er den Fehler beging, ihm zu nahe zu kommen. Das Gefühl war für einen Moment so intensiv, daß er einfach nicht dagegen ankam.