Außerdem spürte sie, wie ihr plötzlich auffiel, weder Müdigkeit noch Hunger. Eine gute Sache, dachte sie, denn sie wußte nicht, was diese Leute aßen.
Sie blieb an der Kreuzung des Hauptweges und einer Zugangsstraße zum See stehen und blockierte halb den Durchgang. Jemand kam hinter ihr heran und zwängte sich an ihr vorbei.
»Verzeihung«, sagte sie automatisch und trat zur Seite.
»Schon gut«, erwiderte der andere und ging weiter.
Es dauerte fast eine volle Minute, bis sie begriff, daß sie gesprochen hatte und verstanden worden war.
Sie eilte dem Wesen nach, das schon einen weiten Vorsprung hatte.
»Warten Sie! Bitte!«rief sie ihm nach. »Ich brauche Ihre Hilfe!«
Der andere blieb stehen und drehte sich um.
»Was gibt es denn?«fragte das Wesen, als sie herankam.
»Ich — ich finde mich nicht zurecht«, stieß sie hervor. »Ich bin gerade — gerade einer von euch geworden und weiß nicht, wo ich bin oder was ich tun soll.«
Der andere begriff plötzlich.
»Ein Neuzugang? Na, so etwas! Wir haben in meinem ganzen Leben keinen Neuzugang in Czill gehabt. Aber natürlich sind Sie durcheinander. Kommen Sie, Sie schlafen heute nacht mit uns, und wir erzählen Ihnen von unserem Ursprung und von Czill«, sagte er eifrig, wie ein Kind mit einem neuen Spielzeug. »Kommen Sie.«
Sie folgte dem Wesen zum Hain hinunter. Es beeilte sich und versammelte seine Genossen, so schnell es konnte, erregt berichtend, daß sie einen Neuzugang in Riverbend hatten, wie das Lager offenbar hieß.
Vardia nahm die ganze Aufmerksamkeit nervös hin, noch immer verlegen und unsicher.
Sie umdrängten sie und stellten hundert Fragen gleichzeitig, bis schließlich eine besonders kräftige Stimme Ruhe forderte.
»Immer langsam!«rief das Wesen gestikulierend. »Seht ihr denn nicht, daß das arme Ding zu Tode verängstigt ist? Wäret ihr das nicht auch, wenn ihr heute nacht schlafen und als, sagen wir, Pia erwachen würdet?«Es wandte sich Vardia zu und fragte sie ruhig:»Wie lange sind Sie schon in Czill?«
»Ich — ich bin eben angekommen«, erwiderte sie. »Sie sind die ersten Personen, mit denen ich spreche. Ich war nicht einmal — nun, ich wußte nicht einmal genau, wie.«
»Tja, Sie sind an den schlimmsten Haufen von Schwätzern geraten«, sagte das Wesen mit der lauten Stimme belustigt. »Ich bin Brouder und will gar nicht versuchen, alle anderen hier vorzustellen. Wir werden ohnehin eine immer größere Menge anziehen, wenn sich das herumspricht.«
Es war interessant, dachte sie, daß ein derart unheimliches Pfeifen und Schnalzen sich in ihrem Gehirn augenblicklich in die Entsprechungen der Konföderations-Sprache übersetzte. Das Wesen hieß natürlich nicht Brouder — es war ein kurzer Pfiff, fünf Schnalzlaute, ein langer Pfiff und eine Reihe verklingender Schnalzlaute. Aber das war, was sich ihr als ›Brouder‹ darstellte, und es schien auch umgekehrt zu funktionieren.
»Ich bin Vardia Diplo Zwölf-Einundsechzig«, sagte sie, »von Nueva Albion.«
»Ein Kom-Welt-Bewohner!«rief jemand. »Kein Wunder, daß er hier gelandet ist!«
»Achten Sie nicht darauf, Vardia«, sagte Brouder. »Sie wollen nur zeigen, wie gebildet sie sind.«
»Was haben Sie gemacht, bevor Sie hierherkamen?«fragte jemand.
»Mein Beruf?«sagte Vardia. »Ich war diplomatischer Kurier zwischen Nueva Albion und Coriolanus.«
»Seht ihr?«schnob Brouder. »Gebildet!«
»Ich wette trotzdem, daß der Eleve nicht lesen kann!«rief der andere aus der Menge.
»Vergessen Sie das«, sagte Brouder und schwenkte seinen Fühler. »Wir sind in Wirklichkeit eine freundliche Gruppe. Ich war — ist etwas?«fragte er plötzlich.
»Mir wird schwindlig«, sagte sie, als Boden und Umstehende plötzlich schwankten. Sie griff hin, um sich an Brouder festzuhalten. »Merkwürdig«, murmelte sie. »So plötzlich.«
»Das kommt vor«, erwiderte Brouder. »Ich hätte daran denken sollen. Kommen Sie, ich helfe Ihnen hinunter zum Wasser.«Er führte sie hinunter zum brodelnden Wasser, das eine seltsam beruhigende Wirkung auf sie ausübte. Er trat mit ihr ins Wasser. »Bleiben Sie hier ein paar Minuten stehen«, sagte der Czillaner. »Kommen Sie herauf, wenn Sie sich besser fühlen.«
Automatisch schoben sich kleine Ranken aus Öffnungen in ihren Füßen und bohrten sich in das seichte Flußbett. Sie sog durch sie das kühle Wasser in sich hinein, und das Schwindelgefühl und die Schwäche vergingen.
Sie sah zum Ufer hinauf und bemerkte, daß alle sie beobachteten, eine Reihe von fünfzehn oder zwanzig hellgrünen, geschlechtslosen Wesen mit starrenden Augen und schwankenden Blättern auf den Köpfen. Sie fühlte sich auf einmal wieder ausgezeichnet, zog ihre dünnen Ranken wieder ein und ging steif hinauf.
»Besser?«sagte Brouder. »Es war dumm von uns — Sie können natürlich nicht viel Wasser in sich gehabt haben. Sie sind der erste Neuzugang seit langer Zeit, und für uns der erste überhaupt. Bitte, sagen Sie es uns, wenn Sie sich auf irgendeine Weise merkwürdig oder schlecht fühlen. Wir unterstellen einfach so viel.«
Die Sorge in seiner Stimme klang echt, und sie fand Trost darin. Alle hatten besorgt gewirkt, als sie aus dem Fluß heraufgekommen war.
Sie fühlte sich wirklich unter Freunden.
»Ich muß ein paar Fragen stellen«, sagte sie. »Was bin ich eigentlich? Das heißt, was sind wir?«
»Ich bin Gringer«, sagte ein anderer und trat heran. »Vielleicht kann ich das beantworten. Sie sind ein Czillaner. Das Land wird Czill genannt, und obwohl das eigentlich nichts erklärt, haben Sie wenigstens einen Namen.«
»Und was bedeutet er?«
»Eigentlich nichts. Die meisten Namen bedeuten heute nichts mehr. Früher war das sicher anders, aber niemand weiß mehr davon. Jedenfalls sind wir in dieser Gegend ungewöhnlich, weil wir Pflanzen sind, statt irgendwelche Tiere. Auf der Schacht-Welt gibt es noch andere intelligente Pflanzenwesen, elf hier im Süden, neun im Norden, obwohl ich nicht sicher bin, daß das wirklich Pflanzen sind, in dem Sinne, wie wir sie verstehen. Wir sind auf jeden Fall hier entschieden in der Minderheit. Aber es hat auch große Vorteile, im Pflanzenreich angesiedelt zu sein.«
»Nämlich?«fragte sie fasziniert.
»Nun, wir sind nicht von irgendeiner Nahrung abhängig. Unsere Körper stellen sie her, indem sie Licht von der Sonne umwandeln, wie die meisten Pflanzen. Ein paar Stunden echte oder künstliche Sonne am Tag, und man kann nicht verhungern. Man braucht ein paar Minerale aus dem Boden, aber die gibt es fast überall auf der Welt, so daß man nahezu überall durchkommt. Das einzige wirkliche Bedürfnis ist Wasser, und das braucht man nur einmal alle paar Tage. Der Körper sagt einem, wann — wie vorhin bei Ihnen. Es gibt hier auch keinen Sex, nichts von den Urtrieben, durch die alle Tiere so neurotisch durcheinandergeraten.«
»Auf meinem Heimatplaneten ist dergleichen sehr gedämpft worden«, sagte sie. »Nach allem, was Sie sagen, ist es hier ganz ähnlich wie bei mir zu Hause. Aber wenn Ihr keine Geschlechter habt, pflanzt ihr euch dann auf künstliche Weise fort?«
Die Zuschauer lachten in sich hinein.
»Nein«, sagte Gringer, »alle Rassen auf dieser Welt sind autarke biologische Einheiten, die unter bestimmten Umweltbedingungen ohne jede Hilfe überleben könnten. Wir vermehren uns langsam, denn wir gehören zu den ältesten, langlebigsten Arten hier. Wenn etwas geschieht, das zusätzliche Bevölkerung erfordert, pflanzen wir uns für längere Zeit ein und bringen durch Teilung ein zweites Exemplar hervor. Das ist viel praktischer als der andere Weg, denn alles, was wir sind, entsteht, Zelle für Zelle, als Duplikat, so daß das neue Gewächs eine exakte Kopie ist, die sogar dieselben Erinnerungen und Persönlichkeiten enthält. Obwohl Sie in einigen Jahrhunderten verbraucht sind, werden Sie also ewig leben — denn die Exemplare sind völlig identisch, so daß selbst wir kaum sagen können, wer wer ist.«