Vardia drängte ihn, ihr weitere Einzelheiten zu verraten, aber der Czillaner vertröstete sie auf einen anderen Zeitpunkt.
»Ich gehe jetzt zum Zentrum«, sagte er. »Sie sollten mitkommen. Da sehen Sie nicht nur etwas von unserem Land — das jetzt auch das Ihre ist —, sondern Sie können auch nur im Zentrum getestet und eingeteilt werden.«
Sie machten sich auf den Weg, und Brouder nannte ihr einige Daten. »Czill hat einen Durchmesser von sechshundertvierzehnkommasechsundachtzig Kilometern, wie jedes andere Hex auf der Welt, mit Ausnahme der Äquator-Hexagons. Wir haben natürlich sechs Nachbarn, zwei davon Meeresgattungen. Unsere sieben großen Flüsse werden durch Hunderte von kleinen Wasserläufen wie dem an unserem Lager gespeist. Die Flüsse wiederum ergießen sich in einen großen Ozean — einen von drein im Süden —, der fast hundert Hexagons bedeckt. Der unsere ist der Overdark-Ozean. Einer der Meeresbewohner ist ein Meeres-Säugetier, halb humanoid, halb Fisch. Sie atmen Luft, leben aber die meiste Zeit unter Wasser. Sie heißen Umiau, und es kann sein, daß Sie im Zentrum einigen davon begegnen. Wir arbeiten immer bei einigen Projekten zusammen, vor allem bei ozeanographischen Untersuchungen, da wir ihre Welt außer in Druckanzügen nicht besuchen können. Die andere Meeresgattung ist eine üble Gruppe mit dem Namen Pia — bösartige Typen mit großen Gehirnen und humanoiden Augen. Sie besitzen aber zehn Tentakel mit schleimigen Haftsaugnäpfen und einem klaffenden Mund mit ungefähr zwanzig Zahnreihen. Man kann eigentlich kaum mit ihnen reden, obwohl sie sehr intelligent sind. Sie neigen dazu, jeden zu fressen, der nicht von ihrer Rasse ist.«
Vardia schauderte.
»Und warum fressen sie die Umiau nicht?«fragte sie.
»Das würden sie tun, wenn sie könnten, aber wie bei allen Sechsecken in der Nähe von feindseligen Arten auf der Welt hier sind in das System natürliche Schranken eingebaut. Das Land der Umiau befindet sich nah der Mündung von drei Flüssen, und der niedrige Salzgehalt behagt den Pia nicht. Außerdem besitzen die Umiau gewisse natürliche Abwehrmethoden und können schneller schwimmen. Zur Zeit besteht ohnehin ein unsicherer Waffenstillstand, weil die Umiau Pia auch fressen können und es tun, ohne auf diesem Gebiet fanatisch zu sein.«
Sie erreichten eine große Weggabelung, an der Brouder sagte:»Wir gehen nach links. Nehmen Sie nie den rechten Weg — er führt zu den Lagern der Kranken und Isolierten.«
»Was für Krankheiten?«fragte sie unsicher.
»Ungefähr dieselbe Zahl wie sonst überall auch. Aber jedesmal, wenn wir einen Immunstoff finden, gibt es bei den Viren eine neue Mutation. Ich würde mir aber keine Sorgen machen. Die durchschnittliche Lebensspanne auf Czill ist über zweihundertfünfzig Jahre, und wenn nichts Ernstes geschieht, um das zu ändern, werden Sie sich ohnehin ein paarmal verdoppeln. Die Bevölkerung beträgt stabile eineinhalb Millionen — überfüllt, aber nicht so sehr, daß es nicht leere Flächen und Lagerplätze gäbe. Tod und Geburt gleichen sich beinahe aus — das Hauptgehirn des Planeten sorgt dafür. Da wir außerdem nicht wirklich altern, wie die anderen Wesen, und da wir die meisten unserer Teile erneuern können, gibt es natürlich einen stetigen Todesfaktor, um die Bevölkerung in Grenzen zu halten. Das Hauptgehirn greift nur in kritischen Situationen ein.«
»Erneuern?«sagte Vardia erstaunt. »Heißt das, ein Arm oder ein Bein, das ich verliere, wächst nach?«
»Genau das«, bestätigte Brouder. »In jeder Zelle Ihres Körpers ist die ganze Struktur enthalten. Da die Atmung direkt durch die Poren erfolgt, kommt alles wieder, solange das Gehirn intakt ist. Es ist schmerzhaft — und wir kennen kaum Schmerz —, aber möglich.«
»Ich brauche also nur meinen Kopf zu schützen«, meinte sie.
Brouder lachte schrill.
»Nein, nicht den Kopf, gewiß nicht. Beide Füße«, sagte er und wies auf ihre seltsamen Füße, die aussahen wie umgestülpte Schüsseln mit schwammigen Deckeln als Sohlen.
»Soll das heißen, daß ich auf meinen Gehirnen laufe?«fragte sie fassungslos.
»So ist es. Jedes steuert die Hälfte Ihres Körpers, aber jedes einzelne besitzt den ganzen Umfang dessen, was der Körper zuführt, einschließlich Denken und Erinnerung. Wenn wir Sie unten am Stengel abhackten, würden Ihre beiden Füße sich in den Boden graben und Sie jeweils neu hervorbringen. Ihr Kopf enthält nur Nervenschaltungen für Sinneseingaben — er ist vorwiegend hohl. Wenn man ihn abschnitte, würden Sie nur einschlafen und sich eingraben, bis ein neuer gewachsen wäre.«Er blickte nach vorn. »Und da ist das Zentrum.«
Es war ein riesiges Gebäude, das sich kilometerweit am Horizont auszudehnen schien. In der Mitte gab es eine große Kugel, die wie ein Spiegel glänzte, dann mehrere Arme — es waren sechs, wie sie belustigt feststellte —, offenbar aus durchsichtigem Glas, die sich symmetrisch ausdehnten. Sie sah Wolkenkratzer aus demselben Material um die Kugel und an den Enden der Arme aufragen.
»Unfaßbar!«stieß sie hervor.
»Mehr, als Sie ahnen können«, erwiderte Brouder stolz. »Dort lösen unsere besten Gehirne Probleme und speichern das Wissen, das wir erlangen. Die silbernen Schienen, die sich durch Wände und Decken ziehen, sind künstliches Sonnenlicht, das uns nachts wachhält und ernährt, und am Horizont sehen Sie den Fluß Averil. Das Zentrum ist über ihm erbaut, so daß wir stets mit Wasser versorgt sind. Mit Licht und Wasser und einigen Vitaminbädern kann man sieben bis zehn Tage rund um die Uhr arbeiten, aber früher oder später bekommt man es zu spüren, und je länger man wach bleibt, desto länger muß man sich dann eingraben.«
»Haben Sie hier eine Bibliothek?«
»Die beste. Sie besitzt alles, was wir haben sammeln können, von unseren Studien auf diesem Planeten und von Neuzugängen wie Ihnen, die Geschichten, Soziologie und sogar technische Informationen beisteuern.«
»Auch Geschichten?«fragte sie.
»O ja«, erwiderte er. »Legenden, Märchen, was immer. Die Umiau sind da besonders fruchtbar. Sie kommen durch den Fluß zum Zentrum.«
»Und was hält dann die Pia fern?«
»Sie vertragen Süßwasser nicht und würden es atmen müssen. Die Umiau sind Säugetiere, so daß ihnen die Art des Wassers gleichgültig ist.«
Im Zentrum wurde sie einem Gelehrten vorgestellt, der Mudriel hieß. Er war Industriepsychologe, und im Lauf der nächsten Tage — es wurden sogar Wochen — war Vardia mit Gesprächen, Tests und anderen Experimenten beschäftigt. Außerdem brachte man ihr die Czill-Sprache bei, die sie immer besser zu beherrschen begann.
Vardia schien die einzige Person zu sein, mit der Mudriel sich beschäftigte, und sie sprach ihn darauf an.
»Sie sind in unserer Lebenszeit der erste Neuzugang«, sagte er. »Manchmal bringen wir Neuzugänge aus anderen Sechsecken her, um sie zu informieren. Wenn das nicht möglich ist, gehe ich hin. Ich gehöre zu den vielleicht tausend Personen, mehr sind es nicht, die auf der nördlichen Halbkugel gewesen sind.«
»Wie ist es dort?«fragte sie. »Es soll ganz anders sein.«
»Das ist der richtige Ausdruck«, sage Mudriel. »Aber auf unserer Hälfte gibt es fast genauso schlimme Arten. Haben Sie sich vorgestellt, wie das ist, mit einem Pia in seiner eigenen Umwelt zu sprechen, wenn er einem helfen und einen gleichzeitig verschlingen will? Ich habe das schon getan.«
»Und doch überlebt«, sagte sie bewundernd.
»Nicht immer. Ich war einmal auf meine Füße reduziert, drei- oder viermal praktisch wochenlang kaputt, und bin zweimal umgebracht worden.«
»Umgebracht!«rief Vardia. »Aber —«
»Ich habe mich viermal natürlich verdoppelt«, erklärte Mudriel achselzuckend, »und einmal, als ich nur noch meine Gehirne hatte. Es gibt immer noch vier von mir. Wir bleiben im gleichen Beruf und wechseln uns auf den Reisen ab, um das Risiko zu verkleinern.«
Eines Tages rief Mudriel sie in sein Büro und blätterte in einer überaus dicken Akte. »Es wird Zeit, Sie einzuteilen«, sagte er. »Sie sind nun lange genug hier. Wir kennen Sie schon fast besser als jeden anderen Czillaner. Ich muß Ihnen sagen, Sie waren ein wunderbarer Prüfling, aber ein verwirrender.«