»In welcher Beziehung?«
»Sie haben sich normalisiert«, sagte Mudriel. »Inzwischen fühlen Sie, als wären Sie geboren wie einer von uns, und Ihre Vergangenheit und alles, was damit zusammenhängt, ist eine rein intellektuelle Erinnerungserfahrung.«
»Das ist wahr. Mir kommt es manchmal vor, als sei meine ganze Vergangenheit einer anderen Person geschehen.«
»Das gilt für alle Neuzugänge.«
»Was verwirrt Sie dann an mir?«
»Ihr Mangel an Fähigkeiten«, sagte der Psychologe. »Jeder kann irgend etwas. Sie sind offenbar zu hoher Intelligenz gefördert worden, wissen aber nichts. Sie könnten Botschaften und Gespräche mühelos übermitteln, aber nichts anderes. Das verblüfft uns. Sie waren praktisch eine menschliche Aufzeichnungsmaschine. Man hat außerordentlich tiefreichende Programmierungen vorgenommen, um sicherzustellen, daß Sie Ihre außerordentlich hohe Intelligenz nie nutzen. Über allem lag die Person Vardia Diplo Zwölf-Einundsechzig, eine Zahl, deren Bedeutung mir zuwider ist. Das hat Sie neugierig gemacht, aber nur an der Oberfläche. Keine der Informationen konnte Sie veranlassen, zu handeln, Sie verspürten den Wunsch dazu gar nicht. Sie haben jetzt deutliche Erinnerungen an Captain Brazil und die anderen Passagiere, und an Dalgonia. Die hätten Sie nicht, wenn Sie nach Coriolanus gekommen wären und man nach dem Abfragen der Botschaft Ihre Erinnerung wieder gelöscht hätte. Was wissen Sie noch von Ihrem Leben, bevor Sie auf Brazils Schiff gingen?«
Vardia dachte nach. Sie erinnerte sich an den Abschied vom Personal des Politischen Büros, an die Fahrt zum Raumflughafen, an das Besteigen der Fähre. Davor an nichts.
»Ich ahnte gar nicht —«, begann sie.
»Ich weiß. Das gehört zum Tiefenprogramm. Aber keine Sorge, das haben wir entfernt. Sie bleiben Sie selbst. Wollen Sie hören, was für eine Nachricht Sie überbringen sollten?«
Vardia nickte dumpf. Der Psychologe steckte einen winzigen durchscheinenden Würfel in einen kleinen Recorder.
Vardia hörte plötzlich ihre alte Stimme sagen:»Das Kommissariat stellt Sie Datham Hain vor, der mit einer Begleiterin dasselbe Schiff wie der Kurier benutzte. Bürger Hain ist in einer Mission von lebenswichtiger Bedeutung für das Kommissariat unterwegs und ersucht um Termine für Arbeitsessen mit mehreren Mitgliedern des Präsidiums von Coriolanus. Sie haben seinen Anweisungen ohne Fragen oder Zögern zu folgen. Behalten Sie den Kurier, bis mindestens ein solches Zusammentreffen vereinbart ist, dann programmieren Sie ihn um, um über dieses Treffen zu berichten, in Hains Gegenwart und mit seiner Zustimmung. Aller Ruhm der Volksrevolution, aller Ruhm ihren Propheten.«
Vardia sah ihn betäubt an.
»Wollen Sie sich verwurzeln und in Ruhe nachdenken?«fragte der Psychologe leise.
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein«, flüsterte sie, »ich — ich schaffe es schon.«
»Ich weiß«, sagte er beruhigend. »Es ist schrecklich, die Lüge in seinem Leben zu finden. Das ist ein Grund, warum wir uns hier der Aufdeckung der Wahrheit widmen. Es gibt auf dieser Welt ebenso schlimme Gesellschaften und Personen, vielleicht noch schlimmere. Hain ist hier irgendwo und hat sich vielleicht schon mit Bösewichten zusammengetan. Solche Gesellschaften sind die Feinde aller Zivilisation, und gegen sie führen wir Krieg. Wollen Sie sich dem Kampf anschließen?«
Vardia schwieg kurze Zeit, dann sagte sie entschieden und scharf:»Ja.«
Der Psychologe lächelte und drückte einen Stempel auf die Akte. Vardia Diplo 1261 gab es nicht mehr.
Vardia, die Czillanerin, verließ das Büro.
Das akkafische Reich
Datham Hain war mit gespielter Kühnheit durch das Portal gegangen, in Wahrheit hatte er Todesangst. Seine Urängste drängten an die Oberfläche, als das markovische Gehirn jedes Subjekt analysierte und einstufte, nach alten, längst untergegangenen Maßstäben.
Er erwachte schlagartig und schaute sich um.
Er begriff sofort, daß er jetzt farbenblind war, obwohl es statt nur Schwarz, Weiß und Grautönen eine sanfte Sepiaschattierung gab, durch die manches verschwommen aussah und anderes deutlich hervortrat. Seine Tiefenwahrnehmung war immens, stellte er fest. Auf einen Blick konnte er genau sagen, wie weit alles Sichtbare voneinander entfernt war, und sein Gesichtsfeld schien auf 180 Grad erweitert zu sein.
Er schien sich auf einem Gesims über einer unfaßbaren Landschaft zu befinden. Das Land war öd und sandbedeckt, und es gab Hunderte von Kegeln, die wie gleichmäßig geformte Vulkane aussahen. Er strengte seine Augen an und stellte plötzlich fest, daß sich das Bild vergrößerte, jedesmal um das Doppelte. Dabei verstärkte sich auch eine kaum bemerkte haarfeine Linie in der Mitte des Sehbereichs, die zu einem dicken Balken wurde, der das Bild in zwei Ansichten trennte. Es war, als starrte er durch zwei Fenster, vor dem Mittelpfosten stehend.
Da unten waren Wesen, die sich bewegten. Hain starrte fasziniert hinunter. Es waren riesige Insekten, zwischen einem und fast vier Metern lang, bei einer Durchschnittshöhe von fast einem Meter. Sie besaßen zwei große, offenbar facettenreiche Augen, die wie bei Fliegen starr vorn am Kopf saßen. Unter den Augen saßen enorme Kiefer zu beiden Seiten eines Mundes, der einem Papageienschnabel glich. Erstaunt sah er eines der Wesen stehenbleiben und sich mit einer langen schwarzen Zunge das Gesicht putzen.
Der Körper war länglich und schien behaart zu sein. Angelegt auf dem Haar waren Flügel, mehrere Paare, wie Hain erkannte. An der Hinterseite des Körpers zeigte sich eine nackte, knochige Spitze, die zweifellos ein Stachel war.
Hain versuchte, sich das Schicksal eines davon Gestochenen vorzustellen.
Der Kopf schien an einem Scharnier oder Rundgelenk befestigt zu sein. Dann sah Hain zum erstenmal die Fühler, Riesenexemplare, die ein Eigenleben zu besitzen schienen und sich in alle Richtungen bewegten, außer nach vorn — auch senkrecht nach oben. Sie endeten in behaarten Knoten.
Die acht Beine waren dick und ebenfalls dicht mit Haaren bewachsen, die länger waren und abwärts zeigten. Sie besaßen mehrere Gelenke, und er sah zwei von den Wesen ihre Vorderbeine wie Hände gebrauchen, um einen Felsblock zur Seite zu räumen. Er sah, daß die Spitzen nicht aus Haaren bestanden, sondern dornartig waren, bedeckt mit einem klebrig aussehenden Sekret.
Die Insekten bewegten sich manchmal mit unglaublicher Geschwindigkeit, und ab und zu erhob sich eines in die Luft. Offenbar konnten sie bei ihrem Gewicht nicht weit fliegen, aber notfalls einen kurzen Luftsprung machen. Hain entdeckte, daß einige von ihnen Maschinen bedienten! Eine sah aus wie ein Schneepflug und räumte Staub und Schutt von den Wegen, andere dienten keinem sofort erkennbaren Zweck.
Er versuchte, den Kopf zu drehen, um an sich hinabzublicken, aber das ging nicht. Er öffnete den seltsam starren Mund und streckte die Zunge heraus. Sie war über drei Meter lang, beweglich wie ein Arm, und mit einer immens klebrigen Substanz bedeckt.
Ich bin einer von ihnen, dachte er, eher verwundert als angstvoll.
Er hob den Kopf und schob die Vorderbeine hoch. Er hatte recht gehabt. Drei Gelenke, alle in jeder Richtung beweglich. Die Spitzen waren Dorne, wie aus Hartgummi, und er experimentierte, indem er hinausgriff und einen kleinen Stein packte. Als seine Beine ihn berührten, verlieh ein klebriges Sekret ihm Halt. Als er losließ, wurde das Sekret fest und fiel ab wie abgestoßene Haut.
Als der Stein zu Boden fiel, bemerkte Hain sofort, daß er das nicht hörte, sondern fühlte, als harten Schlag. Die Fühler, sagte er sich. Sie nahmen Luftbewegung wahr, aber keinen Schall.