Die beiden Zentauren sahen, daß sie sich quälte, und liefen auf sie zu.
»Was ist denn?«fragte das Mädchen mit hoher Stimme.
Sie begann zu weinen.
»Ich weiß es nicht. Ich kann mich an nichts erinnern«, schluchzte sie.
»Na, na«, sagte der Junge und streichelte ihren Rücken. »Weine dich aus, und dann erzähle uns alles.«
Das Streicheln beruhigte sie. Sie richtete sich auf und wischte sich die Tränen ab.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie hustend. »Ich bin einfach am Weg aufgewacht und kann mich an nichts erinnern — wer ich bin, wo ich bin, nicht einmal, was ich bin.«
Der Junge betrachtete ihr Gesicht und betastete ihren Kopf.
»Tut das weh?«fragte er.
»Nein. Es kitzelt überall, sonst nichts.«
Er starrte in ihre Augen.
»Keine Trübung«, sagte er. »Keine Verletzung zu finden. Erstaunlich.«
»Ach, hör mal, Jol, was hast du denn erwartet?«fragte seine Begleiterin.
»Irgendein Anzeichen für Verletzung oder einen Schock«, erwiderte er. »Komm, Mädchen, zeig mal deine Zunge.«
Sie tat es verlegen, und er untersuchte sie. Es war eine große Zunge, flach und breit, und von grau-rosiger Farbe.
»Du kannst sie wieder hineintun«, sagte er. »Kein Belag. Man würde es sehen, wenn du eine Krankheit oder einen Schock hättest.«
»Vielleicht ist sie verhext worden, Jol«, meinte die graugesprenkelte Zentaurin und wich ein wenig zurück.
»Vielleicht, aber dann geht es uns auch nichts an.«
»Was sollen wir tun?«fragte seine Freundin.
Jol drehte sich herum, und zum erstenmal sah Julee, daß er eine Art Satteltasche umgeschnallt hatte.
»Zuerst duschen wir«, sagte er, nahm ein Stück Seife, Stoffteile und Handtücher aus der Tasche, öffnete den Gurt und ließ sie auf den Boden fallen. »Dann bringen wir unser rätselhaftes Mädchen hier ins Dorf und übergeben sie jemandem, der mehr versteht als wir.«
Und genau das taten sie. Nach einigem Zögern folgte ihnen Julee und tat, was sie ihr vormachten.
»Du brauchst dich nicht zu fest abzutrocknen«, sagte das Mädchen, das Dal hieß. »Das geht in der Luft ganz schnell.«
Sie machten sich zu dritt wieder auf den Weg. Als sie den Wald verließen, tauchten das Dorf und die Landschaft dahinter auf.
Der Fluß strömte aus majestätischen Bergen mit schneebedeckten Gipfeln, die sich auf beiden Seiten öffneten und ein fruchtbares Tal und sanft gewellte Hügel freigaben.
Im Dorf — eine Reihe einfacher, aber stabiler Blockhäuser an einem blaugrünen See — herrschte rege Geschäftigkeit. Die Felder waren gepflügt und bepflanzt, und sie sah einige Zentauren zwischen den Reihen einer unbekannten Feldfrucht.
Der ganze Ort schien nicht mehr als einige hundert Leute fassen zu können, dachte sie, und erwähnte das ihren Begleitern gegenüber.
Jol lachte.
»Das beweist, daß du von seeabwärts sein mußt«, meinte er. »Da gibt es ein paar ziemlich große Gemeinschaften. Hier im Tal leben fast tausend, aber wir haben uns überall ausgebreitet. Im Ort leben nur fünfzig oder sechzig Leute die ganze Zeit.«
Die Hauptstraße war breit und dick mit Sägemehl bestreut. Die meisten Gebäude hatten zur Straße hin eine offene Seite. Das größte Gebäude war das erste, das sie erreichten. Es enthielt eine große Schmiede, wo mehrere männliche und weibliche Zentauren glühendes Metall bearbeiteten. Sie sah, wie eine Frau ein Hinterbein hob, während ein kräftiger Mann, der einen Schutzlatz trug, etwas auf ihren Fuß hämmerte, offenbar schmerzlos.
Andere Gebäude erwiesen sich als Geschäfte, die landwirtschaftliche Geräte, Saatgut und dergleichen verkauften. Es gab sogar einen Barbier und eine Bar, die jetzt zwar geschlossen war, aber sich durch große Fässer und Steinkrüge zu erkennen gab.
»Ist es hier immer so warm und schwül?«fragte sie Jol.
Er lachte leise.
»Nein, das ist ein Vier-Jahreszeiten-Hex«, sagte er. »Dann holen wir alle unsere Gammot-Pelzmäntel und Mützen und Handschuhe heraus und toben im kalten Schnee herum.«
Ein Gammot war, wie sie entdeckte, eines der großen Nagetiere, wie sie es am Fluß unten gesehen hatte.
»Es muß ein großer Mantel sein«, meinte sie, und Jol und Dal lachten.
»Du hast wirklich das Gedächtnis verloren!«sagte Dal. »Die Behaarung an unseren Leibern und eine Fettschicht vom Sommer und Herbst her halten ordentlich warm. Nur die unbehaarten Teile brauchen Schutz.«
»Du kannst die Herde und Kamine sehen«, meinte Jol. »Im Herbst werden die Vorderwände wieder angebracht, und es ist behaglich warm im Inneren.«
»Sieht so aus, als könnte jeder, der nicht ehrlich ist, hier alles mitnehmen, was ihm einfällt«, sagte Julee.
Sie erstarrten beide und sahen sie seltsam an.
»Das kommt hier nicht vor«, erklärte Jol aufgebracht.
Seine Reaktion überraschte sie, und sie entschuldigte sich.
»Es — es tut mir leid. Ich weiß auch nicht, warum ich so etwas denke.«
»Es kommen manchmal Händler von anderen Sechsecken, und sie haben versucht, etwas mitzunehmen«, sagte Dal. »Nützt ihnen hier aber nichts. Man kann nur durch den See herein, der vierzig Kilometer lang ist. In den Wäldern hat keiner Aussichten gegen uns, und jeder, der einen sechs Kilometer hohen Berg bei großer Kälte erklimmen wollte, würde mehr verlieren, als er mitnehmen könnte.«
Sie erreichten ein kleines Gebäude, an dem ein Holzschild hing. Es zeigte ein sechseckiges Symbol von zwei kleinen Bäumen. Im Inneren stand ein älterer Zentaur mit langen, weißen Haaren und ungepflegtem Bart, der bis unter seine Brustwarzen reichte.
Er hätte gewiß sehr bedeutsam an seinem unordentlichen Schreibtisch ausgesehen, dachte sie belustigt, wenn er nicht fest geschlafen und laut geschnarcht hätte.
»Das ist Yomax«, sagte Jol. »Er ist zugleich Bürgermeister, Posthalter, Förster und Wildhüter hier. Um sieben Uhr öffnet er immer, genau nach Vorschrift, aber da das Boot nicht vor halb zwölf kommt, schläft er bis dahin meistens noch.«Er brüllte:»He, Yomax! Wach auf! Dienstgeschäfte!«
Der alte Mann regte sich, wischte sich die Augen und reckte nicht nur die Arme, sondern seinen ganzen langen Leib.
»Hmff! Was's los?«schnob er. »Irgendeiner ärgert mich dauernd.«Er drehte sich um. Sein Blick richtete sich auf Wu Julee, und er war plötzlich hellwach. »Ah! Hallo!«sagte er. »Ich kann mich nicht erinnern, dich schon gesehen zu haben.«
»Sie hat ihr Gedächtnis verloren, Yomax«, erklärte Jol. »Wir haben Sie unten am Dreifall gefunden.«
»Sie weiß überhaupt nichts«, warf Dal ein.
Der alte Mann runzelte die Stirn, kam auf sie zu und untersuchte sie so gründlich wie vorher Jol. Er kratzte sich am Bart und dachte nach.
»Und du erinnerst dich an gar nichts?«fragte er zum fünften- oder sechstenmal, während Julee immer wieder verneinen mußte.
»Sehr sonderbar«, sagte er. Plötzlich hellte sich seine Miene auf. »Heb dein rechtes Vorderbein«, sagte er. Sie tat es. Er griff nach dem Huf und drehte ihn nach oben.
»Ich glaube, sie ist verhext«, behauptete Dal.
»Seht euch das an«, meinte Yomax leise. Die beiden anderen drängten sich zu ihm.
»Sie hat keine Eisen!«rief Dal.
»Und nicht nur das, nichts deutet darauf hin, daß sie je welche gehabt hat«, sagte Yomax.
»Beweist gar nichts«, meinte Dal. »Ich kenn' viele, die keine Eisen tragen, vor allem oben im Tal.«
»Das ist wahr«, sagte Yomax und ließ Julees Bein sinken. »Aber der Huf ist unberührt. Keine tiefreichenden Verfärbungen, keine Steinchen, nichts. Wie bei einer Neugeborenen.«
»Ach, das gibt es doch nicht«, meinte Jol.
»Ich sagte doch, sie ist verhext«, ließ sich Dal wieder vernehmen.
»Ihr zwei verschwindet jetzt«, erklärte Yomax und scheuchte sie mit den Händen fort. »Ich glaube, ich weiß zum Teil, was hier los ist.«