Drei Monate vergingen. Skander betrachtete das Bild auf seinem Fernsehschirm, ein elektronisches Mikrogramm des Zellgewebes, das vor einem Monat vom Kernbohrer heraufbefördert worden war.
Es war dieselbe Struktur wie bei den älteren Entdeckungen — dasselbe zarte Zellgefüge, aber im Inneren unendlich komplexer als jede menschliche oder tierische Zelle — und von immenser Fremdartigkeit.
Und eine sechseckige Zelle dazu. Er hatte sich oft nach dem Grund dafür gefragt — waren sogar ihre eigenen Zellen sechseckig gewesen? Er bezweifelte es zwar, aber beim Vorrang, den diese Zahl zu genießen schien, wollte er es auch nicht für unmöglich halten.
Er starrte das Muster unverwandt an. Schließlich streckte er die Hand aus, drehte auf maximale Vergrößerung und setzte die Spezialfilter auf, die er in über neun Jahren auf diesem öden Planeten entwickelt und verfeinert hatte.
Der Bildschirm wurde plötzlich lebendig. In der Zelle zuckten kleine Fünkchen von einem Punkt zum anderen. Ein kleiner Gewittersturm. Er blickte, fasziniert wie immer, auf das, was nur er je gesehen hatte.
Die Zelle lebte.
Aber die Energie war keine elektrische — deshalb hatte man sie nie entdeckt. Er hatte keine Ahnung, was sie war, aber sie verhielt sich wie gewöhnliche elektrische Energie. Sie war nur nicht zu messen, wurde nicht sichtbar, wie Elektrizität es tun sollte.
Die Entdeckung war ein Zufall gewesen, dachte er, vor drei Jahren. Irgendein unbekümmerter Student hatte mit dem Bildschirm gespielt, um hübsch aussehende Effekte zu erzielen, und ihn so belassen. Skander hatte ihn am nächsten Tag eingeschaltet, ohne etwas Besonderes zu bemerken, und dann das übliche Energieortungs-Programm für einen langweiligen Durchlauf mehr eingegeben.
Es war nur ein Vorbeihuschen, ein Aufzucken, aber er hatte es gesehen — und monatelang für sich allein gearbeitet, um ein Filtersystem zu entwickeln, das diese Energie photographisch darstellen würde.
Er hatte die klassischen Proben von anderen Ausgrabungen untersucht, sich eine sogar von einem Versorgungsschiff schicken lassen. Sie waren alle tot gewesen.
Aber nicht diese hier.
Irgendwo, um die vierzig Kilometer unter ihnen, war das markovische Gehirn noch lebendig.
»Was ist das, Professor?«sagte eine Stimme hinter Skander. Er schaltete schnell ab und fuhr herum.
Es war Varnett, den ewig unschuldigen Ausdruck auf seinem ewig kindlichen Gesicht.
»Nichts, nichts«, sagte Skander hastig. »Ich lasse nur spielerische Programme laufen, um zu sehen, wie die elektrischen Ladungen in der Zelle ausgesehen haben könnten.«
Varnett wirkte skeptisch.
»Sah mir aber sehr echt aus«, sagte er störrisch. »Wenn Sie einen entscheidenden Durchbruch erzielt haben, sollten Sie uns das sagen. Ich meine —«
»Nein, nein, es ist nichts«, widersprach Skander zornig. Er gewann seine Fassung wieder und sagte:»Das wäre alles, Bürger Varnett! Lassen Sie mich jetzt allein!«
Varnett entfernte sich achselzuckend.
Skander blieb einige Minuten im Sessel sitzen. Seine Hände — sein ganzer Körper — begannen, heftig zu zittern, und es dauerte seine Zeit, bis der Anfall vorüberging. Langsam begab er sich zum Mikroskop und entfernte vorsichtig den Spezialfilter. Seine Hand war immer noch so unsicher, daß er ihn kaum festhalten konnte. Er legte den Filter mühsam in das winzige Etui und schob es in den breiten Gürtel für Werkzeug und private Dinge, den sie als einziges Kleidungsstück im Inneren trugen.
Er kehrte zu seinem eigenen Raum im Schlafzelt zurück, legte sich auf das Bett und starrte an die Decke.
Varnett, dachte er. Immer Varnett. In den drei Monaten seit der Ankunft hatte der Junge sich um alles gekümmert. Viele der anderen trieben ihre Freizeitspiele und Studentenalbernheiten, aber nicht er. Ernsthaft, nur zu fleißig, und stets mit der Lektüre der Projektberichte, der alten Aufzeichnungen, beschäftigt.
Skander hatte plötzlich das Gefühl, daß alles auf ihn einzudringen schien. Er war von seinem Ziel noch so weit entfernt!
Und jetzt wußte Varnett davon. Wußte zumindest, daß das Gehirn lebte. Der Junge würde gewiß den einen Schritt weitergehen — erraten, daß Skander den Code beinahe entschlüsselt hatte und vielleicht in einem weiteren Jahr dem Gehirn eine Botschaft würde schicken, es reaktivieren können.
Um ein Gott zu werden.
Er würde derjenige sein, welcher die menschliche Rasse mit eben den Werkzeugen rettete, die ihren Schöpfer vernichtet hatten.
Skander sprang plötzlich auf und ging zurück zum Labor. Irgend etwas nagte an ihm, ein Verdacht, daß es in Wahrheit schlimmer stand, als er wußte.
Leise trat er ein.
Varnett saß an der Fernsehkonsole. Und auf dem Bildschirm war dieselbe Zelle zu sehen, die Skander betrachtet hatte; die Energiepole waren deutlich sichtbar! Skander war fassungslos. Er griff schnell in die Tasche, wo er den Filter aufbewahrte. Ja, er war noch da.
Wie konnte das sein?
Varnett stellte Berechnungen an, verglich mit der Anzeige auf einem zweiten Schirm, über den er mit den Mathematikspeichern des Laborcomputers verbunden war. Skander stand regungslos und stumm da. Er hörte Varnett zustimmend murmeln, als entspräche eine Lösung seinen Erwartungen.
Skander warf einen Blick auf seinen Chronometer. Neun Stunden! Es waren neun Stunden gewesen! Er hatte nicht nur nachgedacht, sondern geschlafen und dem Jungen Gelegenheit geboten, seinen schlimmsten Alptraum wahrzumachen.
Irgend etwas sagte Varnett plötzlich, daß er nicht allein war. Er blieb einen Augenblick starr sitzen, dann schaute er sich ängstlich um.
»Professor! Ich bin froh, daß Sie es sind! Das ist unfaßbar! Warum sagen Sie das nicht allen?«
»Wie —«Skander stockte und zeigte auf den Schirm. »Wie sind Sie zu dem Bild gekommen?«
Varnett lächelte.
»Ach, das war einfach. Sie haben vergessen, den Computerspeicher zu löschen, als Sie abschalteten. Was Sie sich angesehen hatten, war neu gespeichert worden.«
Skander verfluchte sich innerlich. Natürlich, die Anzeigen aller Instrumente wurden vom Computer routinemäßig aufgezeichnet. Er war durch Varnetts Entdeckung seiner Arbeit so verstört gewesen, daß er vergessen hatte, den Speicher zu löschen.
»Es ist nur ein vorläufiges Ergebnis«, brachte der Professor endlich heraus. »Ich wollte abwarten, bis ich etwas wirklich Erstaunliches zu berichten hätte.«
»Aber das ist erstaunlich!«rief der Junge aufgeregt. »Sie sind jedoch zu nahe an dem Problem gewesen, an Ihren eigenen Disziplinen, um es zu lösen. Hören Sie, Ihre Fächer sind Archäologie und Biologie, nicht wahr?«
»Richtig. Ich war zunächst Exobiologe und befaßte mich mit der Archäologie, als ich mit meiner Arbeit an den markovischen Gehirnen begann.«
»Ja, ja, aber Sie sind trotzdem Generalist. Meine Welt zieht, wie Sie wissen, von dem Augenblick an, in dem sich das Gehirn ausbildet, auf allen Gebieten Spezialisten heran. Das meine kennen Sie.«
»Mathematik«, sagte Skander. »Wenn ich mich recht entsinne, werden auf Ihrer Welt alle Mathematiker nach einem frühen mathematischen Genie Varnett genannt.«
»Stimmt«, sagte der Junge. »Als ich mich in der Geburtsfabrik entwickelte, prägte man das gesamte mathematische Wissen der Welt direkt auf. Es war ständig zur Stelle, als ich aufwuchs. Bis mein Gehirn mit sieben Jahren völlig entwickelt war, beherrschte ich die ganze angewandte und theoretische Mathematik, die wir kennen. Zuletzt ist alles Mathematik, und so sehe ich alles vom mathematischen Standpunkt aus. Ich bin von meiner Welt hierher geschickt worden, weil mich die fremdartige mathematische Symmetrie in den Dias und Proben des markovischen Gehirns faszinierte. Aber das war alles umsonst, weil ich nichts von der Energiematrix wußte, mit der die Zellbestandteile verbunden sind.«