»Warum müssen wir eigentlich weitermachen?«fragte Vardia eines Tages.
»Wir sind immer noch Gefangene«, erwiderte die Umiau überrascht.
»Aber wir könnten es der Hotelleitung sagen. Entführung ist schließlich ein Verbrechen.«
»Allerdings, doch das geht die Leute auch nichts an. Es ist ihnen egal, ob wir Gefangene, Ungeheuer oder Opfer sind. Ich habe es versucht.«
»Dann müssen wir fliehen, wenn wir wieder unterwegs sind«, sagte Vardia. »Ich habe schon eine Karte gesehen, in meinem Zimmer. Das nächste Hex grenzt an den Ozean.«
»Das wird nicht gehen. Erstens haben wir keine Vorstellung von den Kräften dieser Wesen aus dem Norden, und ich will sie auch nicht auf die Probe stellen. Zweitens kann Hain schneller fliegen und laufen als Sie, und beide sind wir nur ein mittelgroßer Bissen für sie. Nein, schlagen Sie sich das aus dem Kopf. Außerdem stehen wir nicht schlecht da. Am Ende habe ich die eigentliche Kontrolle über uns alle, weil sie ohne das, was ich weiß, gar nichts tun können. Nein, ich glaube, wir gehen mit — bis Mitternacht am Schacht der Seelen«, fügte sie mit einem leisen Lachen hinzu.
»So lange werden wir hier wohl auch festgehalten«, sagte Vardia mürrisch.
»Dagegen können wir nichts tun. Erzählen Sie mir lieber etwas von sich, von Ihrer Geburtswelt. Sind Sie geboren worden oder ausgeschlüpft? Männlich oder weiblich?«
»Ich bin durch Kloning in Geburtsfabrik Zwölf auf Nueva Albion entstanden«, sagte sie. »Die ganze Fortpflanzung geschieht durch Klonen vom Zellgewebe der höchsten Persönlichkeiten in der Geschichte jeder Berufsgruppe. So sind alle Diplos auf oder von Nueva Albion von der Heiligen Vardia geklont, die während der Revolution vor mehreren Jahrhunderten die Verbindung zwischen der Befreiungsfront auf Coriolanus und den Heiligen Revolutionären auf dem reaktionären Nueva Albion aufrechterhielt. So trug ich ihre Gene, sah aus wie sie und leistete dieselbe Arbeit. Meine Nummer Zwölfeinundsechzig gab an, daß ich der einundsechzigste Vardia-Klon aus Geburtsfabrik Zwölf war.«
Skander spürte ein flaues Gefühl im Magen. Dahin ist die Menschheit also gekommen, dachte sie. Fast zwei Drittel der Menschen erniedrigt zu Klonen, zu Nummern — weniger menschlich als die Mechs dieser absurden Nation.
»Dann sind Sie also eine Frau gewesen«, sagte die Umiau, ohne sich anmerken zu lassen, was in ihrem Inneren vorging.
»Eigentlich nicht«, erwiderte Vardia. »Das Klonen macht Geschlechtsunterschiede unnötig, und Geschlecht bedeutet Sexismus, der Ungleichheit fördert. Je nach dem Klon-Typ wird die Entwicklung chemisch und chirurgisch aufgehalten. Alle Drüsen, Hormonproduktion und dergleichen werden entfernt, verändert oder auf Dauer neutralisiert, bei mir an meinem elften Geburtstag. Außerdem nimmt man Totaloperationen vor und Männer werden kastriert, so daß man nach dem Wendepunkt männlich und weiblich nicht mehr unterscheiden kann. Alle paar Jahre sollten wir einer Behandlung unterzogen werden, die den Alterungsprozeß aufhält und den Körper auffrischt, so daß man einen Fünfzigjährigen nicht von einem Fünfzehnjährigen unterscheiden konnte.«
Skander fühlte sich so deprimiert, daß ihr beinahe übel wurde. Ihr Götter! dachte sie. Ein kleiner, sorgfältig gezüchteter Kader von Supermännern und Superfrauen herrscht über eine Welt von Eunuchenkindern, die nur unbedingten Gehorsam kennen. Ich hatte recht, sie umzubringen. Solche Ungeheuer — und Gewalt über den Schacht. Undenkbar.
Sie dachte plötzlich an Varnett. Er war zwar nicht von einer so furchtbaren Welt wie Nueva Albion, aber die seine würde denselben Weg gehen. Varnett — genial, ein wahrhaft großer Geist, und doch kindisch, unreif, in tausenderlei Beziehung ebenso programmiert wie seine Vettern, die er verabscheute. Was für eine Welt, was für ein Universum, würde Varnett erschaffen?
Die Markovier hatten begriffen, dachte sie. Sie hatten alles gewußt.
Ich werde sie nicht verraten, schwor sie sich feierlich. Ich lasse nicht zu, daß jemand den großen Traum zerstört. Ich werde zuerst am Ziel sein. Dann werden sie es sehen. Ich vernichte sie alle.
Murithel — irgendwo im Inneren
Cousin Bat flog hilflos im Kreis. Vielleicht kann ich ihn hochheben, dachte er, als er Brazils zerschlagenen und blutenden Körper im Schlick liegen sah. Er ist nicht sehr groß, und ich habe mit meinen Beinen schon schwere Steine geschleppt.
Er wollte es versuchen, als eine Gruppe von Murnies das Tal hinaufstürmte. Sie erreichten den Bewußtlosen, bevor Bat etwas tun konnte, und die Fledermaus dachte: Es ist alles vorbei. Sie werden ihn in Stücke hacken und auffressen.
Aber sie taten es nicht. Vier von den Wilden blieben bei Brazil, während zwei andere zur höher gelegenen Prärie hinaufliefen. Bat blieb fasziniert, wo er war, und balancierte auf den Luftströmungen.
Die beiden kamen kurze Zeit später mit einer Tragbahre aus zwei Stangen und geflochtenem Gras zurück und legten Brazil vorsichtig darauf. Sie stiegen mit ihrer Last den Hang hinauf, und Bat folgte ihnen, in der Dunkelheit noch immer unsichtbar.
Auch auf der Ebene war es wieder dunkel geworden. Bat sah fassungslos Hunderte, vielleicht Tausende von Murnies auf eine große rauchende Fläche ungefähr tausend Meter vom Tal entfernt einschlagen, eine wohlgeübte Feuerwehr, die mit Häuten die letzten Funken löschte, während eine anscheinend endlose Kette der Wesen Eimer vom Fluß zur Brandstätte reichte.
Das sollen Wilde sein? fragte sich Bat verwundert. Die Zusammenarbeit und geschickte Bekämpfung des Brandes schien nicht vereinbar zu sein mit den primitiven Fleischfressern.
Brazil wurde in ein kleines Lager abseits der Brandstätte geschleppt. Ein besonders großer Murnie, dessen hellgrüne Haut mit dunkelbraunen Flecken übersät war, untersuchte den Mann und bellte Befehle.
Der hünenhafte Murnie holte einen Eimer Wasser und begann, Brazils Wunden mit einer für die Fledermaus erstaunlichen Sanftheit zu säubern. Andere brachten einen großen Koffer aus Häuten und eine Anzahl Blätter. Der große Murnie öffnete die Verschnürung des Koffers, zog verschiedenfarbige Töpfe heraus, die mit Schlamm gefüllt zu sein schienen, und andere Blätter, die in den Töpfen offenbar in irgendeine Lösung gelegt waren.
Der Murnie bestrich die offenen Wunden Brazils mit dem Schlamm und machte aus den Blättern eine Kompresse für den Kopf des Mannes.
Er ist ein Arzt, begriff Cousin Bat plötzlich. Sie pflegen ihn.
Die Wunden waren groß, wie er sehen konnte. Brazil hatte viel Blut verloren und vermutlich Brüche, eine Gehirnerschütterung und einen Schock davongetragen. Selbst wenn der Medizinmann von Blutübertragung gehört hatte, gab es keinen, der das Blut spenden konnte.
Brazil würde in wenigen Stunden tot sein, begriff Bat traurig, gleichgültig, was dieses Wesen zu tun vermag. Aber was kann ich tun? Und wenn sie ihn auf irgendeine Weise heilen — was wird er dann sein? Gefangener? Haustier? Spielzeug? Sklave?
Der Medizinmann gestikulierte, ein kleinerer Murnie führte eine große Antilope mit Geweih heran. Sie muß betäubt sein, dachte Bat, so willig ließ sich das Tier führen. Er sah entgeistert, daß das hirschähnliche Tier einen Kragen aus sorgfältig zusammengedrehter Haut trug, an dem ein kleiner Stein hing.
Das Tier hat einen Eigentümer, begriff Bat. Züchten diese Wilden ihre Nahrung selbst?
Aus verschiedenen Richtungen kamen fünf weitere Murnies ins Lager, alle so groß wie der Medizinmann, ebenso gefärbt.
Sechs, dachte Bat. Natürlich. Die Primitiven hielten viel von magischen Zahlen, und wenn eine Zahl hier Bedeutung hatte, dann war es gewiß diese.
Sie stellten das Tier vor Brazil hin, alle sechs Murnies traten nah heran. Drei legten die rechten Hände auf die Antilope und ergriffen mit der linken die rechten Hände der drei anderen, die ihrerseits ihre linken Hände auf Brazils Körper legten.