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»Sie sind gute Leute«, sagte er. »Nur ganz andersartig. Sie können nichts gebrauchen, was nicht in der Natur zu finden ist oder von Hand gemacht wird. Überhaupt keine Maschinen. Sie sind zweigeschlechtlich, wie wir — obwohl ein Fremder nicht erkennen könnte, wer was ist. Enge Familien, hochentwickelte Volkskunst und Musik — Hirten, welche die Antilopen züchten, die wir essen. Aber sehr feindselig gegenüber Fremden — sie hätten euch gestern getötet.«

»Worruhm lähb ich dannoch?«fragte sie.

»Du lebst, weil ihr ungefähr zwei Dutzend Krieger getötet habt, direkt, meine ich, abgesehen vom Brand.«

Sie begriff nicht und sagte es ihm.

»Die Murnies akzeptieren den Tod als etwas Natürliches«, erläuterte er. »Wir fürchten ihn nicht und beschäftigen uns nicht damit. Wir leben für den Tag, das ist viel angenehmer. Was am meisten respektiert und geachtet wird, sind Ehre und Mut, und die habt ihr gestern nacht bewiesen. Wenn ihr euch ergeben hättet, wäret ihr trotzdem getötet worden, aber sie fanden dich und Brazil bewußtlos an verschiedenen Stellen im Fluß. Es wäre feige und unehrenhaft gewesen, euch zu töten. Ihr habt euch Achtung erworben, deshalb seid ihr in Lager gebracht und gepflegt worden. Unsere Medizin ist ziemlich hochstehend — das ist ein rauhes Hex.«

»Nathan!«rief sie. »Üßt ärr amm Lähben?«

»Er hat viel mehr mitgemacht als du«erwiderte der Murnie ernsthaft. »Du wirst ein wenig Schmerzen haben, wenn das Kräutermittel in seiner Wirkung nachläßt, hast aber nicht mehr als vier oder fünf tiefe Schürfwunden davongetragen. Wir haben sie behandelt, doch sie werden wehtun. Aber Brazil ging es viel schlechter. Ich weiß nicht, wie er weitermachen konnte. Er sollte tot sein oder zumindest völlig gelähmt, doch er lief noch fast einen Kilometer durch den Fluß, bevor er zusammenbrach. Was für einen unglaublichen Willen muß er haben! Die Murnies werden Jahrhunderte von ihm und seinen Taten singen! Zu den vielen kleineren Brüchen, dem enormen Blutverlust und dem völlig kaputten Bein hatte er sich Rücken und Hals gebrochen und lief trotzdem noch einen Kilometer weit.«

Sie dachte an den armen Nathan, und es wurde ihr so übel, daß sie geraume Zeit brauchte, um sich wieder auf den Murnie konzentrieren zu können.

»Lähbterr noch?«fragte sie stockend.

»Er lebt noch«, erwiderte der Murnie. »Sozusagen.«

»Ährr isd pöh — böwußtloss?«

»Bewußtlos, ja. Aber die Ärzte hier — es sind wirklich Ärzte — besitzen enorme Kräfte, die sie ein halbes Leben lang entwickelt haben. Als Brazil ins Lager gebracht wurde, war er schon das legendärste Wesen, das es hier jemals gegeben hat. Der Geheiligte, der ihn untersuchte, tat, was er konnte, aber er sah, daß der Tod nicht aufzuhalten sein würde. Er holte fünf andere — sechs ist hier aus naheliegenden Gründen eine magische Zahl — und sie nahmen eine Übertragung der Ehre vor. Das ist, seit ich hier bin, nur drei- oder viermal geschehen — es verkürzt das Leben der Geheiligten um ein Jahr oder mehr. Sie behalten es sich für den Gipfel an Ehre und Mut vor.«Er sah sie an und unterbrach sich. »Ich sehe, du begreifst nicht. Es ist schwer zu erklären. Hängst du einer Religion an?«

Der Gedanke an Religion war für sie sehr komisch, aber sie sagte nur leise:»Nein.«

»Wenige von uns tun es — oder taten es zu meiner Zeit, und jetzt wird es noch schlimmer sein. Aber hier lernt man, daß man von den meisten Dingen nichts weiß. Man mag es mechanisch nennen, wenn man will, einen Teil der Kräfte des markovischen Gehirns, aber man muß es akzeptieren: Was wir sind, unsere Erinnerungen, unsere Persönlichkeit, was auch immer, kann nicht nur verwandelt, sondern auch weitergereicht werden. Sieh mich nicht so an — ich bin nicht wahnsinnig. Ich habe es gesehen.«

»Wohlennsüh mirr sahken, daßn Athan jötzt ein Murnie isst?«fragte sie ungläubig.

»Kein Murnie«, erwiderte er ruhig. »Das würde verlangen, daß sein — nun, nennen wir es sein ›Wesen‹ — auf jemand anderen übertragen wird. Nein, wenn jemand so hochgeachtet ist, daß ihm eine Übertragung der Ehre zugebilligt wird, gelangt er in den besten Vollblut-Antilopenhirsch oder in ein Reh. Sieh mich nicht so entsetzt an — sie sind von so hervorragenden Eigenschaften, daß sie sofort erkannt werden. Niemand würde sie töten oder auch nur belästigen. Wenn der Körper dann gesundgepflegt werden kann, was selten vorkommt, sonst würden die Geheiligten das Verfahren gar nicht anwenden — wird er wieder zurückgetauscht. Wenn nicht, wird er verehrt, versorgt und führt ein glückliches und friedliches Leben auf den Ebenen.«

»Nathan üßt einne Ahntiloppe?«ächzte sie.

»Ein wunderschöner Vollblut-Hirsch«, bestätigte der Murnie. »Ich habe ihn gesehen. Er ist noch betäubt. Ich wollte nicht, daß er aufwacht, bevor wir beide dort sind und es ihm erklären können.«

»Bestött ürrgeneine Ausücht, daß ein Kärrper amLähben bleipt?«

»Ob sein Körper am Leben bleibt? Ich weiß es nicht. Ich bezweifle es sehr, aber ich nehme an, der Ausgang hängt davon ab, was mit ihm noch geschieht.«Er berichtete von der Entführung des Körpers durch Cousin Bat. »Er konnte uns offenbar nicht als zivilisiert betrachten und mußte Brazil für das Opfer primitiver Medizin ansehen. Er bringt Brazils Körper nach Czill, wo es ein modernes Krankenhaus gibt. Wenn der Körper die Reise überlebt, werden die Czillaner wissen, was geschehen ist. Einer unserer Leute unterrichtet sie heute für alle Fälle. Sie können die Funktionen des Körpers, wenn er noch lebt, unbegrenzt aufrechterhalten, auch wenn er nur eine leere Hülse ist. Ihre Computer wissen von der Übertragung der Ehre. Wenn sie den Körper zu heilen vermögen, kann er zur Rückübertragung hierhergebracht werden, aber ich würde meine Hoffnungen nicht daran knüpfen. Ich habe in meinen achtzig Jahren drei Übertragungen erlebt, und keiner der Körper hat die Nacht überstanden.«

Nathan Brazil erwachte mit einem merkwürdigen Gefühl. Alles sah ganz anders aus.

Er befand sich auf der Murnie-Prärie — und es war Tag.

Ich habe also wieder einmal überlebt, dachte er.

Allerdings sah alles höchst sonderbar aus, wie durch ein Fischauge-Kameraobjektiv gesehen. Sein Gesichtsfeld war etwas größer als vorher, es war ein Rundbild, das starke Verzerrungen aufwies. Am Rand schien alles ganz nah zu sein, aber zum Mittelpunkt hin entfernte sich alles, wie durch einen langen Tunnel gesehen. Und die ganze Welt war braun — eine unfaßbare Anzahl von Braun- und Weißtönen.

Brazil drehte den Kopf und schaute sich um. Verzerrung und Farbenblindheit blieben.

Und er kam sich eigenartig vor. Sein Gehör war unglaublich scharf. Er hörte alles kristallklar, sogar Stimmen und Geräusche in weiter Entfernung. Murnies gingen hin und her, und sie erschienen ihm alle hellbraun, obwohl er sie grün in Erinnerung hatte. Plötzlich hörte er Schritte und sah einen großen dunkelbraunen Murnie auf sich zukommen.

Ich muß mit Drogen betäubt sein, dachte er. Das sind die Nachwirkungen irgendeiner Droge.

Der große Murnie kam auf ihn zu.

Ich muß auf einem Gestell stehen, dachte Brazil. Ich bin so groß wie er, und er ist mindestens zwei Meter groß.

Zwei riesenhaft vergrößerte Murniehände ergriffen seinen Kopf und drückten ihn ein wenig herab, damit das Wesen direkt in Brazils Augen blicken konnte.

»Ah, wach, wie ich sehe«, sagte der Murnie in Konföderations-Sprache. »Noch nicht bewegen. Und nichts sagen. Sie können nicht.«Das Wesen setzte sich müde ins Gras. »Ich habe eineinhalb Tage nicht geschlafen«, sagte es. »Es tut gut, sich ausruhen zu können.«Es setzte sich bequemer und suchte nach Worten. »Also, Nate«, sagte es, »alles der Reihe nach. Sie wissen, daß ich ein Neuzugang bin, und ich höre, daß ich nicht der erste bin, den Sie gekannt haben, und auf den Sie hier wieder gestoßen sind. Wenn Sie neunzig Jahre zurückdenken können, erinnern Sie sich vielleicht an Shel Yvomda. Ja? Wenn ja, schütteln Sie den Kopf.«