Er streichelte ihren Pferderücken mit der Unterseite seiner Schnauze und erreichte das knochige Hinterteil. Sie seufzte und streifte ihm die Fessel ab. Sie machten weiter.
Das war eine verrückte, wahnsinnige Art, sich zu paaren, aber das Tier in ihm zeigte ihm, wie.
Wuju bekam von Nathan Brazil endlich, was sie wollte.
Brazil erwachte und fühlte sich so gut wie schon seit vielen Jahren nicht. Er blickte hinüber zu Wuju, die noch schlief, obwohl die Sonne vor einer Stunde aufgegangen war.
Ist es nicht seltsam? dachte er. Die Verwandlung, die Krise, die Art, wie diese Leute mir gedient haben, all das hat bewirkt, was nichts anderes zu erreichen vermocht hatte.
Er erinnerte sich.
Er erinnerte sich an alles, bis zurück zum Anfang.
Er begriff endlich, was er vorher getan hatte, was er jetzt tat, warum er überlebte.
Er dachte an das Gefäß, in dem er steckte. Nicht seine eigene Wahl, das verstand sich, aber brauchbar, wenn er nur eine Stimme bekommen konnte.
Was für eine grandiose Veränderung, alles zu wissen! Sein Verstand war völlig klar, nun, da alles vor ihm lag. Er beherrschte jetzt alles.
Komisch, dachte er, das ändert gar nichts. Wissen, Erinnerung, Weisheit beiseite, er war der Höhepunkt aller Erfahrungen in seinem unfaßbar langen Leben.
Nathan Brazil. Er schmeckte den Namen ab. Er gefiel ihm immer noch. Von den — wie vielen? — tausend oder mehr Namen, die er getragen, klang dieser am behaglichsten und rätselhaftesten.
Er ließ seinen Geist hinausschweifen. Ja, entschieden eine Art Zusammenbruch. Kein umfassender, aber schlimm. Die Zeit dämpft alle Mechanismen, und die unendliche Komplexität der Hauptgleichung mußte Fehler enthalten. Man kann die Unendlichkeit mathematisch darstellen, aber nicht als etwas Reales, als etwas, das man sehen und verstehen kann.
Und doch bin ich immer noch Nathan Brazil, dachte er, immer noch die Person, die ich gewesen bin, und ich bin hier in Murithel im Körper eines großartigen Tieres, und ich muß nach wie vor zum Schacht, bevor Skander oder Varnett oder sonst jemand hinkommt.
Czill. Wenn er richtig verstanden hatte, gab es dort Computer. Also ein Hex mit hochstehender Technologie. Man würde ihm eine Stimme geben — und das Neueste mitteilen können.
Grondel kam aus einem Zelt und ging zu ihm. Brazil zerrte an seiner Fessel, und der Murnie befreite ihn. Er ging sofort zu der Stelle, wo er seine Buchstaben einritzen konnte. Grondel folgte ihm.
»Was gibt es, Nate?«
»WIE WEIT VON HIER ZUM ZENTRUM IN CZILL?«schrieb Brazil.
»Schon, wie?«murmelte Grondel. »Ich wußte es. Nun, ungefähr hundertfünfzig Kilometer, vielleicht etwas mehr, zur Grenze, dann ebenso weit zur Hauptstadt in Czill. Genau weiß ich es nicht, weil ich dieses Hex nie verlassen habe. Wir kommen mit unseren Nachbarn nicht gut aus, was uns nur recht ist.«
»MUSS GEHEN«, scharrte er in den Staub. »HABE JETZT KONTROLLE. WICHTIG.«
»Hmm… Dachte mir schon, daß Sie nicht Urlaub machen wollen. Also gut, wenn es nicht anders geht. Und das Mädchen?«
»SIE KOMMT AUCH MIT. ARBEITE EINFACHEN CODE FÜR GRUNDLEGENDE DINGE AUS, ANHALTEN, WEITER, ESSEN, SCHLAFEN, ETC.«
Und so machten sie es. Brazil ließ sich möglichst viele Grundbegriffe einfallen und übersetzte sie in Stampfen mit dem rechten Bein, dem linken Bein. Zwölf Begriffe waren das Äußerste, was er ihr zumuten wollte.
Sie fraßen sich mit Gras voll. Grondel wollte auf Wuju bis zur Grenze mitreiten. Nathan war als gekennzeichnete Antilope ungefährdet, aber sie nicht. Ein Murnie in ihrer Begleitung konnte für sicheres Geleit sorgen.
Sie folgten dem Fluß, kamen an der Stelle vorbei, wo er im Schlick gelegen hatte. Sie kamen sehr schnell voran, und Brazil genoß seine Kraft und Geschwindigkeit, aber für einen Reiter war er nicht geeignet, und Wuju mußte Grondel tragen, was sie behinderte. Es spielte keine Rolle.
Am zweiten Tag kurz nach Einbruch der Dunkelheit erreichten sie die Grenze. Am Morgen des dritten Tages, nachdem Grondel Wuju den Code noch einmal eingeschärft hatte, verabschiedeten sie sich von ihm und gingen nach Czill hinein. Die Luft war außerordentlich schwül und feucht und stank nach Kohlendioxid.
Sie stießen bald auf Czillaner, seltsam aussehende Wesen, die ihn an glatthäutige Kakteen mit zwei Stämmen und geschnitzten Kürbisköpfen erinnerten. Weder er noch Wuju hatten ein Übersetzungsgerät, so daß sie sich nicht verständigen konnten, aber im ersten Ort, den sie erreichten, konnten sie eine einfache Verbindung herstellen. Das Dorfzentrum glich einer riesigen, durchsichtigen, geodätischen Kuppel und war eines der über hundert Forschungszentren außerhalb der Hauptanlage. Die Czillaner waren überrascht, eine Dillianerin zu sehen — sie wußten, was Wuju war, aber nach ihrem Wissen hatte noch keine ihrer Rasse Czill je erreicht. Sie betrachteten Brazil als eine Kuriosität, als ein bloßes Tier.
Wuju konnte ihnen nicht viel mehr klarmachen als ihre Namen. Sie gab schließlich auf, und sie liefen auf der Straße weiter. Brazil kümmerte sich sehr um Wuju, und sie liebten sich jede Nacht. Sie war glücklich und fragte sich nicht einmal, wie Brazil, der die Führung übernommen hatte, an jeder Gabelung wußte, welchen Weg er zu nehmen hatte. Sie hatte ihn jetzt und wollte ihn nicht mehr verlieren.
Am Vormittag des zweiten Tages erreichten sie die Hauptstraße des Sechsecks und folgten ihr. Es dauerte noch eineinhalb Tage, bis sie das Zentrum erreichten, da es nicht, wie Grondel vermutet hatte, in der Mitte des Hexagons lag, sondern an der Meeresküste.
Sie kamen an, als es dunkel wurde, und Brazil zeigte durch Stampfen an, daß sie zuerst schlafen wollten. Als er sie in dieser Nacht liebte, war sie unruhig. Sein Denken ist schon in dem Gebäude, sagte sie sich, und das bedrückte sie. Das mochte ihre letzte Nacht sein.
Cousin Bat weckte sie in den frühen Morgenstunden, bevor es hell wurde.
»Brazil! Wuju! Wacht auf!«rief er aufgeregt. Wuju sah ihn und begrüßte ihn herzlich. Der ganze alte Argwohn war vergessen.
Bat starrte Brazil ungläubig an.
»Sind das wirklich Sie, Brazil?«
Brazil nickte.
»Er kann nicht sprechen, Cousin Bat«, sagte Wuju. »Er hat keine Stimmbänder. Ich glaube, das stört ihn mehr als alles andere.«
»Es tut mir leid«, sagte Bat ernst. »Das wußte ich nicht.«Er schnob. »Großer Held, der den Verletzten den Tod aus dem Rachen reißt. Ich habe alles verdorben.«
»Aber Sie sind ein Held«, tröstete ihn Wuju. »Das war etwas unglaublich Tapferes und Wunderbares.«Sie verstummte. Die Frage mußte gestellt werden. »Ist er — lebt sein Körper noch?«fragte sie leise.
»Ja, auf irgendeine Weise«, erwiderte Bat. »Aber — nun, es ist ein Wunder, daß er überhaupt noch lebt, und medizinisch gibt es keinen Grund dafür. Die Ärzte hier sind großartig, aber der Körper wird nur noch für Klonen geeignet sein. Wenn Brazil in ihn zurückkehrte, würde er nur dahinvegetieren.«
Sie sahen Brazil an, aber die Antilope zeigte keine Reaktion.
»Dann muß er ein Tier bleiben?«fragte sie.
»Sieht so aus«, erwiderte Bat langsam. »Man hat mir jedenfalls erklärt, die Verletzungen seien so schwer gewesen, daß ich keinen weiteren Schaden angerichtet habe. Sie können nicht verstehen, wie er die Hiebe der Murnies überstanden hat, die ihm Hals und Wirbelsäule an zwei Stellen brachen. Niemand hat jemals so etwas überlebt.«
Sie unterhielten sich, bis es hell wurde und die Czillaner im Sonnenschein erwachten. Bat führte sie ins Zentrum und zum medizinischen Flügel am Fluß.
Die Czillaner waren von Brazil fasziniert und bestanden darauf, ihn mit Elektroenzephalographen und anderen Geräten zu untersuchen. Er war ungeduldig, ließ das aber über sich ergehen. Wenn sie so weit fortgeschritten waren, konnten sie ihm vielleicht eine Stimme verschaffen.