Varnett hielt den Atem an.
»Ich glaube, ich verstehe plötzlich, was Sie meinen. Diese Schacht-Welt, auf der wir uns befinden, lieferte, wenn Sie recht haben, nicht nur die Versuchslabors für die neuen Rassen und ihre Umwelten, und die Mittel, alles passend zu verändern — sie war auch die Steuerung.«
»Richtig«, sagte Brazil grimmig. »Hier war alles labormäßig, laborgeschaffen, überwacht und erhalten von automatischen Anlagen, damit es so blieb. Nicht alle — nur ein repräsentativer Ausschnitt, die letzten zu schaffenden Rassen, da sie am leichtesten zu erhalten waren.«
»Aber unsere Rasse hat sich hier selbst zerstört«, wandte Varnett ein. »Ich habe davon gehört. Heißt das, daß wir ausgeschieden sind? Das wir uns bestenfalls selbst und andere vernichten oder vielleicht die Ebene der Markovier erreichen können, um am Ende doch Selbstmord zu begehen? Gibt es keine Hoffnung?«
»Es gibt Hoffnung«, sagte Brazil ruhig. »Und auch Verzweiflung. In der Religion der alten Erde, von der ich sprach, dachten die Gläubigen, ihr Gott hätte seinen Sohn zu uns Menschen geschickt, einen vollkommenen Menschen, erfüllt nur von Güte und Liebe. Und es wurde wirklich eine solche Person geboren — ich habe ihn beobachtet, als er den Leuten beizubringen versuchte, sie sollten das Materielle aufgeben und sich auf die Liebe konzentrieren.«
»Was wurde aus ihm?«fragte Wuju gebannt.
»Seine Anhänger lehnten ihn ab, weil er nicht die Welt beherrschen oder wenigstens eine politische Revolution führen wollte. Andere nutzten seine Redekunst zu politischen Zwecken. Am Ende störte er das politische System zu sehr, und sie töteten ihn. Die Religion wurde, wie die von anderen Menschen unserer Rasse zu anderen Zeiten gegründete, innerhalb von fünfzig Jahren politisiert. Gewiß, es gab einige gläubige Anhänger. Aber sie beherrschten ihre Religion nie und verloren oder isolierten sich. Dasselbe geschah mit einem älteren Mann, der Jahrhunderte vorher und Tausende von Meilen von dort entfernt geboren wurde. Er starb nicht durch Gewalt, aber seine Anhänger ersetzten Ideen durch Dinge, und gebrauchten die Suche nach Liebe und Vollkommenheit als gesellschaftliche und politische Bremse, um das Elend der Menschheit zu rechtfertigen. Nein, die religiösen Propheten, die Erfolg hatten, waren jene, die wie die Markovier dachten, politisch — der Gründer des Kom sah zum Beispiel Zustände materieller Entbehrung, die ihn krank machten. Er träumte von einer Zivilisation wie jener der Markovier und brachte die Kom-Welten auf den Weg. Er hatte den größten Erfolg, weil er an das appellierte, was jeder verstehen kann — die Suche nach dem materiellen Utopia. Nun, er kann es behalten.«
»Augenblick, Brazil«, meinte Varnett. »Sie sagen, Sie wären dabeigewesen, als alle diese Leute lebten. Das muß Tausende von Jahren her sein. Wie alt sind Sie eigentlich?«
»Das beantworte ich, wenn wir am Schacht sind«, erklärte Brazil. »Dort beantworte ich alle Fragen, nicht vorher. Wenn wir nicht vor Skander und seinen Begleitern dort sind, spielt es ohnehin keine Rolle mehr.«
»Dann könnten sie an die Stelle der Markovier treten, die Gleichungen verändern?«fragte Varnett entsetzt. »Ich habe mir das auch einmal zugetraut, aber die Logik zeigte mir, wie sehr ich mich irrte. Erst als wir erfuhren, daß Skander es versuchen könnte, schickte man mich hin. Deshalb habe ich mich mit Ihnen zusammengetan, Brazil — Sie sagten in Zone, Sie wollten dasselbe tun. Unser geheimnisvoller Informant hat uns aufgefordert, mit Ihnen zusammenzugehen, wenn das möglich sein sollte.«
»Aber wie konnten Sie —«Brazil verstummte, dachte eine Weile nach und gluckste plötzlich. »Natürlich! Wie dumm ich gewesen bin! Ich wette, der Kerl hört alle Botschaften in Zone ab. Ich hatte vergessen, wie raffiniert er ist.«
»Wovon redest du?«fragte Wuju gereizt.
»Von dem dritten Beteiligten. Er wußte die ganze Zeit, wo Varnett und Skander waren. Er wollte nur wie üblich dabei sein, wenn es um die Entscheidung ging. Ich war seine Rückversicherung, für den Fall eines Mißerfolgs — der sich auch abzeichnete. Skander wurde entführt und konnte nicht mehr direkt überwacht werden. Jedenfalls ist es ihm gelungen, die anderen auf dem Weg zum Ziel aufzuhalten, damit wir alle ungefähr zur selben Zeit ankommen — wo wir in Empfang genommen werden.«
»Von wem redest du denn, zum Teufel?«fragte Wuju aufgebracht.
»Seht!«sagte Brazil. »Da ist Ghlmon, das letzte Hex vor dem Äquator. Seht ihr den ausgebrannten rötlichen Sand? Er zieht sich der Breite nach durch zwei Hexagons, ein halbes Hex hoch.«
»Von wem, will ich wissen!«fuhr ihn Wuju an.
»Nun«, sagte Brazil zögernd, »wenn ich mich nicht sehr täusche, werden wir ihm irgendwo in dieser sonnenversengten Wüste begegnen.«
»Gehen wir heute noch über die Grenze?«fragte Varnett.
»Ja. Es wird für uns alle hart werden, also gewöhnen wir uns am besten gleich daran. Wir gehen in der Nacht weiter, solange wir können, am Ufer entlang. Untertags kommen wir vielleicht nicht voran.«
Wuju sah ihn wütend an, aber Brazil beschleunigte seine Schritte und zwang die anderen, mitzulaufen. Nach wenigen Minuten überschritten sie die Grenze. Die Hitze überfiel sie wie eine ungeheure, belastende Decke. Binnen Minuten schleppten sie sich nur noch dahin. Schließlich mußten sie rasten. Die Dunkelheit brachte nur wenig Erleichterung.
Wuju setzte sich keuchend zu Brazil.
»Wer, Nathan?«stieß sie hervor.
»Die einzige Person, die genau wußte, daß ich Skander nachsetzen, daß ich zuerst zu dir nach Dillia gehen würde, war auch die einzige, die Varnett sagen konnte, wo und warum er mich finden konnte. Er war früher Pirat. Man konnte ihm nicht trauen, wenn er auch nur einen Schekel verdienen konnte, aber man konnte sich mit seinem Leben auf ihn verlassen, wenn es um keinen Gewinn ging. Das hatte ich eben vergessen — der Einsatz ist hier hoch; der Gewinn könnte größer sein, als sich das irgend jemand vorzustellen vermag. Er hat mir gesagt, ich könnte von allen Rassen Hilfe bekommen, aber keiner trauen — auch ihm nicht, wie sich herausgestellt hat. Er nahm allerdings an, ich würde ihn nicht für einen Gegner halten, weil wir gute Freunde gewesen waren und ich ihm allerhand schuldete. Er hat beinahe recht gehabt.«
Sie begriff endlich, und ihre Miene hellte sich auf.
»Ortega!«rief sie. »Dein Freund, dem wir in Zone begegnet sind!«
»Die sechsarmige Walroß-Schlange?«fragte Vardia. »Ortega steckt hinter allem?«
»Nicht hinter allem«, sagte eine Stimme hinter ihnen — eine knappe, ruhige Männerstimme, die Würde und Autorität verriet. »Aber er freut sich trotzdem, daß alles gut gegangen ist.«
Sie fuhren herum. In der fast völligen Dunkelheit konnten sie alle nicht gut sehen, aber das Wesen sah wahrhaftig aus wie ein Dinosaurier, ein Meter hoch, mit dunkelgrüner Haut und flachem Kopf. Es stand aufrecht auf großen Hinterbeinen, hatte eine gebogene Pfeife in der kurzen Hand. Außerdem schien es eine altmodische Smokingjacke zu tragen.