Brazil sah ihn kurz an.
»Warum alle, Serge? Warum nicht nur Sie und ich?«
»Ach, kommen Sie, Nate! Wofür halten Sie mich? Sie wissen, wie man hineinkommt, ich nicht. Sie wissen, was dort ist — ich nicht. Mit den anderen kann ich Sie zügeln. Jeder verfolgt seine eigenen Interessen hier, keiner läßt den anderen die Oberhand gewinnen. Sie werden sogar alle bewaffnet sein, mit Pistolen, die jeden von euch töten können, aber nicht mich. Ich habe mir Immunität gegen Hains Stachel verschafft, das ist also keine Bedrohung, und körperlich bin ich um so viel stärker als jeder von euch, daß ich es gern mit euch aufnehme.«
»Sie rechnen sich immer alles aus, wie?«sagte Brazil seufzend. »Warum mußten wir dann so kämpfen und so weit laufen, Serge? Warum haben Sie uns nicht einfach alle zusammengeholt und hierhergebracht?«
»Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wohin Sie wollten«, erwiderte Ortega ehrlich. »Skander suchte immer noch, Varnett hatte aufgegeben, und sonst wußte niemand Bescheid. Ich ließ mich von den Expeditionen also einfach hierherleiten. Als ich sah, wohin es ging, sorgte ich für eine Verlangsamung, damit ich vor Ihnen hier sein konnte. Noch niemand hat den Weg hinein gefunden, und es ist oft versucht worden.«
»Aber wir wissen jetzt, daß der Eingang am Ende der Avenue ist«, sagte Der Rel plötzlich. »Und von Skander erkenne ich, daß die Zeit des Zutritts Mitternacht ist.«
»Richtig«, nickte Brazil. »Das Wissen allein bringt euch aber noch nicht hinein. Ihr braucht den besonderen Wunsch, zum Schachtzentrum zu gelangen, und eine Grundgleichung, um dem Schacht mitzuteilen, daß ihr wißt, was ihr tut.«
»Die Varnett-Beziehung«, sagte Skander. »Die offene Gleichung der markovischen Gehirnproben, nicht?«
»Gewiß«, meinte Brazil. »Es sollten schließlich keine Markovier ferngehalten werden. Die Bedingungen dieser Welt sind solcher Art, daß die Beziehung einfach nicht zu entziffern ist. Es war reiner Zufall, daß ihr sie entdeckt habt. Auf Dalgonia hättet ihr sie nicht verwenden können, weil sie eine Antwort verlangt, um vollständig zu sein, eine Ergänzung. Sozusagen ›Was ist dein Wunsch?‹, worauf man seinen Wunsch in der mathematisch richtigen Form ausdrücken muß. Aber in diesem Fall wird die Vervollständigung vom Gehirn übernommen, wenn man die Frage stellt — eine Umkehrung.«
»Aber wenn er ein Markovier ist, warum kann er sich nicht einfach mit dem Gehirn in Verbindung setzen und allen Problemen ausweichen, die er hier hatte?«fragte der Slelcronier.
Brazil sah die Pflanze erstaunt an.
»Ich dachte, Sie wären Vardia — aber die Stimme klingt ganz anders.«
»Vardia ist mit einem Slelcronier verschmolzen«, erklärte Der Rel und berichtete kurz von der Begegnung mit den Blumenwesen. »Sie besitzt viel Weisheit und beachtliche Geisteskräfte, aber Ihre Freundin ist ein so winziger Teil des Ganzen, daß die Czillanerin praktisch tot ist«, schloß Der Rel.
»Verstehe«, sagte Brazil langsam. »Nun, es hat hier ohnehin zu viele Vardias gegeben. Unsere ist das Original und wieder menschlich geworden. Ebenso Wuju und Varnett«, sagte er zu Ortega.
»Varnett?«Skander setzte sich plötzlich im Becken auf. »Varnett ist bei Ihnen?«
»Ja, und keine Tricks, Skander«, sagte Ortega warnend, »sonst befasse ich mich persönlich mit Ihnen.«Er sah Brazil an. »Das gilt auch für Sie, Nate.«
»Es wird keine Probleme geben, Serge«, erklärte Brazil müde. »Ich führe Sie alle in den Schacht, dann zeige ich Ihnen, was Sie wollen — was Sie alle wollen. Ich beantworte alle Fragen, kläre alles auf.«
»Ist uns recht«, erwiderte Ortega, aber seine Stimme klang ein wenig beunruhigt.
Die Avenue — am Äquator
Der Marsch die Avenue entlang war ohne Zwischenfall verlaufen. Sie gingen alle dorthin, wohin sie wollten, und jeder dachte an seine eigenen Interessen, wie der Ulik richtig vorhergesagt hatte. Die vier Mitglieder von Brazils Gruppe blieben für sich.
Als die Sonne heruntersank, standen sie an der Äquatorbarriere, die eindrucksvoll und scheinbar undurchdringlich war.
Sie sah wie eine halb durchscheinende Wand aus, die emporragte, bis sie mit dem dunkelblauen, wolkenlosen Himmel verschmolz. Die Wand selbst sah nicht dick aus und fühlte sich glatt und glasig an, hatte aber die Versuche vieler Rassen abgewiesen, ihr auch nur eine Schramme beizubringen. Sie reichte von Horizont zu Horizont, war eine riesige, nicht-spiegelnde Glaswand.
Die Avenue schien in ihr aufzugehen, und es gab kein Anzeichen für einen Riß oder auch nur eine kleine Fuge. Sie schienen eins zu werden.
Brazil drehte sich an der Wand um.
»Vor Mitternacht können wir nicht hinein«, sagte er. »Machen wir es uns bequem.«
»Meinen Sie vierundzwanzig Uhr?«fragte die echte Vardia.
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Brazil. »Zum einen sind die Tage auf dieser Welt ungefähr achtundzwanzig ein viertel Stunden lang, so daß vierundzwanzig Uhr hier keine Bedeutung hat. Mitternacht bedeutet genau, was der Ausdruck sagt — die Mitte der Nacht. Da ein Tag genau 28,334 Standard-Stunden hat und die Achse genau senkrecht steht, beträgt die Tagesperiode 14,167 Stunden, ebenso die Nacht. Mitternacht ist also 7,0835 Stunden nach Sonnenuntergang.«
»Und wie bestimmen wir das?«fragte Der Rel. »Wir haben Zeitmesser, aber keine so exakten.«
»Nicht nötig«, erwiderte Brazil. »Hain, fliegen Sie hinauf zur Oberfläche und beobachten Sie die Sonne. Wenn Sie im Westen verschwindet, sagen Sie uns sofort Bescheid. Sieben Stunden danach achten wir auf unsere Uhren. Wir brauchen nur noch zu warten, bis die Wand sich öffnet. Wir haben nur etwa zwei Minuten, es ist also wichtig, daß alle sofort hindurchgehen. Wer es nicht tut, bleibt hier zurück.«
»Und die Atmosphäre?«fragte Skander. »Wir haben nur einige Druckanzüge.«
»Auch kein Problem«, erklärte Brazil. »Alle von uns vertragen die Sauerstoff-Stickstoff-Kohlenstoff-Mischung, die den Sektoren auf beiden Seiten der Avenue mehr oder weniger gemeinsam ist. Das System wird uns begleiten, wenn wir hinuntergehen. Es könnte nur unterschiedliche Schwerkraftlinien geben, aber das kann nicht mehr als Unbequemlichkeit verursachen.«
Sie setzten sich oder entspannten sich auf andere Weise, während sie auf den richtigen Zeitpunkt warteten.
»Bist du wirklich — wirklich ich?«sagte Vardia zögernd zu dem Slelcronier, der nur wegen einer kleinen Lampe am Sonnenblatt noch wach war.
Der Slelcronier dachte nach.
»Wir sind du, und wir sind mehr als du«, erwiderte er. »Alle deine Erinnerungen und Erfahrungen sind hier, zusammen mit den Millionen von uns.«
»Aber was tut ihr? Was ist der Sinn in eurem Leben?«
»Allgemeines Glück in stabiler Ordnung. Lange haben wir uns danach gesehnt, die Synthese verbreiten zu können. Durch diesen Körper und deine Erfahrung können wir nach Czill zurückkehren und uns vermehren. Wir werden uns überallhin ausdehnen, auf der ganzen Schacht-Welt und schließlich in alle Winkel des Universums.«
»Und wenn es euch bei den Tieren nicht gelingt?«
»Es wird gelingen, und wenn nicht, dann beseitigt das Überlegene einfach das Unterlegene, wie es seit Anbeginn der Zeit die Natur vorschreibt.«
Das bin nicht ich, dachte sie. Das kann ich nicht sein. Oder doch? Ist es nicht das, was meine eigene Gesellschaft erstrebt? Bedienen wir uns nicht deshalb des Klonens, damit alle gleich werden?
»Und was werdet Ihr tun, wenn ihr alles erreicht habt?«fragte sie plötzlich. »Was dann?«
»Dann werden Vollkommenheit, Harmonie und Frieden herrschen«, sagte der Slelcronier, als bete er eine Litanei herunter. »Der Himmel wird unser sein, und das auf ewig. Warum fragst du das? Sind wir nicht du?«