»O ja, ich bin wach,«erwiderte Brazil und drehte langsam den Kopf. »Ich habe nur nachgedacht. Mir hat diese Sache Spaß gemacht, wissen Sie, sehr viel Spaß. Jetzt ist sie vorbei, zu Ende. Und sie endet wie alle anderen Episoden in meinem Leben. Ich muß wieder weitermachen.«
»Ich verstehe Sie ganz und gar nicht, Brazil«, sagte Varnett verwirrt. »Sie führen das Kommando. Sie allein wissen, was dort ist. Sie haben ein Mädchen, das Sie liebt, und eine Zukunft. Was ist los mit Ihnen?«
Brazil schüttelte langsam den Kopf.
»Ich habe keine Zukunft, Varnett«, sagte er. »Dieser Teil des großen Stückes ist vorbei. Ich kenne das Ende schon und finde es nicht gut. Ich sitze in der Falle, Varnett, ich bin verdammt. Diese Ablenkung war gut für mich, aber nicht für lange, weil sie auch zuviel Schmerz und Sehnsucht wiedergebracht hat. Und was Wuju angeht — sie liebt nicht mich, Varnett. Sie hat ein tiefes Bedürfnis, geliebt zu werden. Sie liebt ein Symbol, etwas, das Nathan Brazil mit ihr und für sie getan hat, etwas in der Art, wie er auf sie reagierte. Aber sie will von mir, was ich ihr nicht geben kann. Sie will ihren Traum der Normalität.«Er streckte die Beine. »Ich bin nicht normal, Varnett«, sagte er traurig. »Ich kann ihr geben, was sie will, braucht, verdient. Ich kann es für euch alle tun. Aber ich kann nicht beteiligt sein, das ist der Fluch.«
»Hört sich für mich nach grandiosem Selbstmitleid an«, sagte Varnett spöttisch. »Warum nicht nehmen, was Sie wollen, wenn Sie das alles können?«
»Sie werden es bald wissen«, entgegnete Brazil seufzend. »Sie müssen sich nur eines merken, Varnett, bei allem, was geschieht: Innerlich bin ich nicht von euch verschieden.«
»Was würden Sie wollen, wenn Sie alles haben könnten?«fragte Varnett.
Brazil sah ihn gequält an.
»Ich will sterben, Junge. Ich will sterben — und ich kann nicht. Nie. In keiner Weise. Und ich wünsche mir so den Tod.«
Varnett schüttelte verständnislos den Kopf.
»Ich begreife Sie einfach nicht, Brazil.«
»Was wollen Sie, Varnett?«fragte Brazil scharf. »Worum geht es Ihnen?«
»Ich habe viel darüber nachgedacht«, erwiderte der andere. »Ich bin erst fünfzehn Jahre alt, Brazil. Fünfzehn. Meine Welt bestand immer aus entmenschlichten Leuten und kalter Mathematik. Jetzt bin ich der älteste Fünfzehnjährige meiner Rasse. Ich glaube, ich möchte das Leben genießen, ein menschliches Leben genießen — und auf irgendeine Weise meinen Beitrag zum Fortschritt leisten. Diesen Sturz der Menschheit in eine markovische Hölle verhindern und versuchen, die Gesellschaft aufzubauen, die sie aus ihren Zehntausenden von Kulturen und Rassen zu entwickeln hofften. Im Schacht der Markovier ist Größe, ein vielleicht nicht realisiertes Potential, aber wahre Größe. Ich möchte sehen, daß sie erreicht wird, daß die Gleichung gelöst wird, mit der die Markovier nicht fertig wurden.«
»Ich auch, mein Junge«, sagte Brazil, »denn erst dann könnte ich sterben.«
»Sieben Stunden!«Ortegas Stimme zerriß die Stille. »Es ist fast Zeit!«
Brazil drehte sich langsam um. Alle hasteten zur Barriere.
»Keine Sorge«, versicherte er. »Sie wird sich für mich öffnen. Ein Licht wird aufleuchten, dann geht hinein. Die Barriere wird sein wie nichts. Nur ich werde mich verändern, seid darauf vorbereitet. Und noch etwas — ich führe. Ich habe keine Waffen, aber der Schacht wird mir eine Form verleihen, die euch nicht vertraut ist. Laßt euch nicht beunruhigen und schießt nicht aufeinander. Sobald wir alle im Inneren sind, führe ich euch den Schacht der Seelen hinunter und erkläre unterwegs alles. Tut nichts Übereiltes, denn ich bin der einzige, der euch mit Sicherheit hinunterführen kann, und ich dulde keine Verstöße. Klar?«
»Großes Gerede, Nate«, sagte Ortega, aber er wirkte unsicher. »Wir machen mit.«
»Ich habe Ihnen mein Wort gegeben, Serge«, sagte Brazil. »Ich halte es.«
»Seht!«rief der Slelcronier. »Das Licht!«
Hinter Brazil leuchtete ein Abschnitt des Bodens in die ÄquatorBarriere hinein.
»Gehen wir«, sagte Brazil ruhig, drehte sich um und trat in die Wand. Die anderen folgten ihm mit angespannten Mienen.
Plötzlich rief Skander:»Ich hatte recht! Ich hatte von Anfang an recht!«und zeigte nach vorn. Die anderen richteten die Blicke auf die angezeigte Stelle.
Den meisten stockte der Atem.
Wuju unterdrückte einen Aufschrei.
Der Schacht hatte Nathan Brazil verwandelt, wie er es vorausgesagt hatte.
Mitternacht am Schacht der Seelen
Das Wesen stand am Ende der Avenue, wo sie durch eine meterhohe Barriere führte und aufhörte.
Es sah aus wie ein riesiges menschliches Herz, zweieinhalb Meter hoch, rosig und dunkelrot, mit zahllosen Blutgefäßen von rötlicher und bläulicher Farbe. An der unregelmäßigen Oberseite befand sich ein Ring von Wimperhaaren, schmutzig-weiß, die sich bewegten — Tausende, wie winzige Schlangen, jedes ungefähr fünfzig Zentimeter lang. Aus der Mitte der weichen, pulsierenden Masse ragten in gleichen Abständen sechs Tentakel, breit und kraftvoll, bedeckt mit Tausenden kleiner Saugnäpfe. Die Tentakel waren von kränklichem Blau, die Saugnäpfe von körnigem Gelb. Aus der Hauptmasse schien eine Art Blutwasser zu fließen, das sehr dick war und von der Haut wieder aufgesaugt zu werden schien.
Und es lag — der Geruch von verwestem Aas in der Luft. Der Gestank drang in ihre Nasen und verursachte ihnen Übelkeit.
Skander begann, aufgeregt zu plappern, dann wandte er sich den anderen zu.
»Sehen Sie, Varnett?«sagte er. »Sehen Sie? Sechs Tentakel in gleichen Abständen, ungefähr drei Meter hoch. Das ist ein Markovier.«
»Sie sind also wirklich ein Markovier gewesen, Nate«, sagte Ortega staunend. »Nicht zu fassen!«
»Nathan!«rief Wuju. »Ist das — das Ding wirklich du?«
»So ist es«, kam Nathan Brazils Stimme, aber nicht als Sprache. Sie formte sich in jedem ihrer Gehirne, in jeder ihrer eigenen Sprachen. Selbst Der Erahner empfing sie direkt, nicht über den Rel.
»Natürlich! Natürlich!«rief Skander strahlend. »Telepathie, versteht sich. Wahrscheinlich auch alles andere.«
»Das ist ein markovischer Körper«, sagte Brazils Stimme zu ihnen, »aber ich bin kein Markovier. Der Schacht kennt mich jedoch, und da alle als neue Rassen draußen lebten, war es nur natürlich, daß wir beim Eintritt in die markovische Form verwandelt wurden.«
Wuju trat vor den anderen auf das Wesen zu.
»Wu Julee!«schrie Hain gellend. »Du gehörst mir!«
Die lange, klebrige Zunge schnellte heraus und wickelte sich um sie. Sie kreischte auf. Ortega fuhr herum und richtete zwei Pistolen auf den Käfer.
»Hören Sie auf damit, Hain«, sagte er warnend. »Lassen Sie das Mädchen los.«
Die beiden Mündungen zielten auf die Augen des Insekts.
Hain zögerte kurz, dann löste sich die Zunge von Wu Julee, und diese fiel aus dreißig Zentimeter Höhe auf den Boden. An ihrer Haut waren breite Striemen zu sehen.
Das Wesen, das Nathan Brazil war, ging auf seinen sechs Greifarmen auf sie zu. Einer der Arme berührte sanft ihre Wunden. Der Gestank war überwältigend. Wu Julee zuckte angstvoll zurück.
Die herzähnliche Masse kippte ein wenig um die Achse.
»Die Form bedeutet nichts«, spottete das Wesen, ihre Stimme nachahmend. »Nur der Inhalt zählt.«Dann sagte es mit Brazils alter Stimme:»Und wenn ich nun ein Monstrum wäre, Wuju? Was dann?«
Wuju begann zu schluchzen.
»Bitte, Nathan, bitte tu mir nicht weh«, flehte sie. »Nicht mehr wehtun, bitte. Ich — ich kann einfach nicht.«
»Tut es weh?«fragte er leise, und sie nickte, während sie sich die Tränen abwischte.
»Dann vertrau mir doch, Wuju. Mach die Augen zu. Ich nehme die Schmerzen weg.«