Das Mädchen, wer oder was immer sie gewesen sein mochte, hatte sich damit umgebracht. Sie war hier in diesem Raum, Sekunden zuvor, gestorben, allein. Und im selben Augenblick war sie in ihren Körper versetzt worden.
Wie konnte jemand, der so aussah, Selbstmord begehen? So jung, dachte sie — nicht älter als sechzehn oder siebzehn Jahre. Und so schön.
Sie versuchte aufzustehen, aber ihr war zu schwindlig. Sie fiel auf das Bett zurück und starrte die Glühbirne an. Sie ertappte sich dabei, daß sie sich am ganzen Körper streichelte.
Es sind die Pillen, dachte etwas in ihr. Die Wirkung ist noch nicht abgeklungen.
Plötzlich ging die Tür auf, und ein Mann schaute herein. Er trug weiße Arbeitskleidung, wie ein Küchenhelfer. Er war kahlköpfig und über Fünfzig, sah aber hartgesotten aus.
»Okay, Nova, es wird Zeit —«, begann er, dann starrte er sie an, die leere Schachtel, das Erbrochene am Boden.
»Verdammter Mist!«schrie er. »Du hast wieder die Glückspillen genommen, wie? Ich hab' dich gewarnt. Ich hab' mich schon gewundert, daß eine wie du in einem Kaff wie dem hier arbeitet. Man hat dich überall hinausgeworfen.«Er sah sie angeekelt an. »Du taugst nichts. Ich hab' dir gesagt, du fliegst raus, wenn du das noch einmal machst: Los, steh' auf und verschwinde!«
Sie kicherte und zeigte auf ihn.
Er packte sie am Arm und riß sie hoch.
»Mensch, siehst du toll aus«, sagte er verwundert. »Nur schade, daß das Innere nicht zum Äußeren paßt. Los!«
Er zog sie hinaus und eine Holztreppe hinunter. Sie kam sich vor, als schwebe sie, und machte Flugbewegungen mit dem Arm.
Unten gab es eine Bar. Am Boden Sägemehl. Ein paar runde Tische. Eine Theke. Der Raum war leer.
»Ach, verdammt«, sagte er beinahe traurig und griff in eine Kasse. »Du hast dir nicht mal den Unterhalt verdient. Da, fünfzig Reals.«Er stopfte das Geld in ihr Höschen. »Wenn du auf die Straße gehst oder in den Wald oder zum Sheriff, kauf dir was anzuziehen und eine Fahrkarte. Mir reicht es.«Er hob sie hoch und warf sie auf die Straße hinaus. Sie kam ein wenig zu sich und schaute sich im Halbdunkel um.
Plötzlich wollte sie nicht gesehen werden. Es waren nur wenige Leute unterwegs, aber sie mußte bald auffallen. Sie kroch in einen Durchgang zwischen dem Wirtshaus und einem Laden. Es war sehr dunkel und kalt und roch nach Abfall.
Plötzlich flammte die Straßenbeleuchtung auf. Ich sitze allein an einem Ort, den ich nicht kenne, dachte sie, fast nackt, und es wird immer kälter. Was kann noch passieren?
Wie auf ein Stichwort begann es, zu donnern und zu knistern, und die Temperatur sank auffällig.
Sie begann zu weinen. In ihrem ganzen Leben hatte sie sich noch nicht so hilflos gefühlt.
Ein Mann ging über die Straße auf das Lokal zu. Er blieb plötzlich stehen. Ein Blitz zuckte und erhellte die Stelle, wo sie saß. Er kam auf sie zu und starrte sie ungläubig an, streckte die Hand aus, berührte ihre nackte Schulter.
»Was ist denn, kleine Frau?«fragte er leise.
Sie sah ihn gequält an, wollte sprechen und konnte nicht.
Sie war selbst in diesem Zustand das Schönste, was er je gesehen hatte.
»So schlimm kann es doch nicht sein«, meinte er. »Wo wohnen Sie? Ich bringe Sie heim. Sie sind doch nicht verletzt, oder?«
Sie schüttelte den Kopf und hustete.
»Nein, nein«, stieß sie hervor. »Hab' kein Zuhause. Bin hinausgeworfen worden.«
Er kauerte vor ihr nieder. Donner und Blitze hörten nicht auf, aber noch regnete es nicht.
»Dann kommen Sie mit«, sagte er leise. »Ich habe ein kleines Haus unten an der Straße. Da ist niemand außer mir. Sie können bleiben, bis Sie wissen, was Sie tun wollen.«
Sie schüttelte verwirrt den Kopf. Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Konnte sie ihm vertrauen?
Eine fremdartige, ferne Stimme flüsterte in ihr: Fühlst du es? Angst, Habgier, Entsetzen, Ehrgeiz, das zerfrißt euch… Quäl' dich nicht, lauf nicht vor deinen Ängsten davon. Kämpf dagegen an!
Was habe ich zu verlieren? dachte sie.
»Ich gehe mit«, sagte sie leise. Er half ihr hoch und wischte sie ab. Er ist sehr groß, dachte sie. Ich reiche ihm nur bis zum Hals.
Sie gingen aus der Stadt hinaus. Auf der Straße war kein Mensch. Das Gewitter war zu hören und zu sehen, aber es regnete noch immer nicht. Die Temperatur war von fünfzehn auf acht Grad gesunken. Sie fror.
»Wollen Sie mein Hemd?«fragte er.
»Aber dann frieren Sie«, sagte sie.
»Ich mag kaltes Wetter«, erwiderte er und zog sein Hemd aus. Seine breite, muskulöse Brust weckte die seltsamen Gefühle wieder in ihr. Er legte das Hemd um ihre Schultern. Es war groß wie ein Zelt für sie, aber warm und angenehm. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte, und irgend etwas veranlaßte sie, sich an ihn zu lehnen und ihren Arm um seine nackte Brust zu legen. Er legte auch den Arm um sie, und so gingen sie weiter.
Sie fühlte sich beruhigt und sah zu ihm auf.
»Wie heißen Sie?«fragte sie.
»W —«, begann er, dann sagte er statt dessen:»Kally Tonge. Ich habe dort vorne eine Farm.«
Sie sah den Verband an seinem Kopf.
»Sie sind verletzt.«
»Es ist nicht mehr schlimm«, erwiderte er und lachte leise. »Übrigens sind Sie genau das, was mir der Arzt verschrieben hat. In der Nacht sollte jemand bei mir sein, meinte er.«
»Tut es sehr weh?«fragte sie.
»Nicht mehr. Die Medizin ist hier sehr modern, auch wenn es hier sonst eher primitiv aussieht.«
»Ich weiß von der Welt nicht viel«, erwiderte sie. »Ich bin nicht von hier.«
»Woher kommen Sie?«
»Ich glaube nicht, daß Sie je davon gehört haben«, sagte sie. »Eigentlich von nirgends.«
»Und wie ist Ihr Name?«
Sie wollte sagen:»Nova«, aber statt dessen sagte sie:»Vardia.«
Er blieb stehen und sah sie an.
»Das ist ein Kom-Name, nicht wahr?«meinte er. »Sie sind von einer Kom-Welt!«
»Sozusagen, aber ich habe mich sehr verändert.«
»Auf der Schacht-Welt?«fragte er scharf.
Ihr Atem stockte.
»Sie — Sie sind eine von den Personen im Schacht!«rief sie. »Sie sind in dem Körper aufgewacht, wie ich in diesem! Die Kopfwunde hat Kally Tonge getötet, und Sie sind er geworden, wie ich Nova!«
»Zweimal, als ich jemanden brauchte, haben Sie mich getröstet, sogar verteidigt«, sagte er.
»Wujul«rief sie und lächelte staunend. Sie betrachtete ihn prüfend. »Wie haben Sie sich verändert!«
»Nicht mehr als Sie«, erwiderte er und schüttelte den Kopf. »Was für ein Körper!«
»Aber — aber warum ein Mann?«fragte sie.
Seine Miene wurde ernst.
»Das erzähle ich Ihnen einmal. Der gute alte Nathan. Er hat es wirklich getan.«
Plötzlich begann es stark zu regnen. Sie waren in wenigen Sekunden tropfnaß, und ihre ganze Frisur sackte zusammen. Sie lachten, und er hob sie hoch und lief durch den Schlick zu seinem Blockhaus, verschätzte sich aber, und sie stürzten beide in den schwarzen Schlamm.
»Alles in Ordnung?«fragte er.
»Ich ertrinke im Schmutz«, antwortete sie lachend.
»Die Scheune ist näher!«rief er. »Dort! Kommen Sie!«
Sie liefen hinüber, er schob die Tür auf, und sie stürzten hinein. Der Regen prasselte auf das Blechdach und an die Holzwände. Es war dunkel. In den Ställen muhten ein paar Kühe.
»Wuju?«sagte sie.
»Hier«, sagte er, und sie drehte sich herum.
»Am besten warten wir es hier ab«, meinte er. »Da drüben ist Heu.«
Sie liefen hinüber und ließen sich auf das Heu sinken. Sie zog ihr Höschen aus, das völlig verschmutzt war. Sie lagen eine Weile nebeneinander. Er legte den Arm um sie und begann, ihre Brust zu streicheln.
»Das tut gut«, flüsterte sie. »Ist es das, was ich gespürt habe? Ich dachte, es wären noch die Pillen. Hast du das bei Brazil gespürt?«