Bolitho stand auf dem Achterdeck, während Hyperion mit killenden Segeln beigedreht lag, und bewunderte wieder einmal die elementare Schönheit des Sonnenuntergangs. Die lange, schwingende Dünung glühte wie rauhe Bronze, die Boote und ihre Ruderer schienen vergoldet. Sogar die Gesichter um ihn herum sahen in diesem Licht unwirklich aus.
Nachdem zwei von Hyperions Booten mit dreißig Mann sicher abgelegt hatten, machte Bolitho in einer Jolle die letzte Überfahrt. Kaum hatte er die Thor erreicht, schwangen die Rahen der Hyperion herum. Ihre Silhouette schrumpfte, als sie abdrehte und im letzten Sonnenlicht den beiden Briggs nachsegelte.
Wenn Commander Ludovic Imrie sich durch die Anwesenheit des Admirals an Bord seines bescheidenen Schiffes bedrängt fühlte, zeigte er es jedenfalls nicht. Es überraschte ihn jedoch, als Bolitho seine Epauletten ablegte und vorschlug, daß Imrie als
Kommandant der Thor seinem Beispiel folge.»Ihre Leute kennen Sie gut genug«, meinte er dazu.»Und ich wette, daß sie auch mich kennen, wenn erst alles vorbei ist.»
Bolitho verdrängte Hyperion und alles andere aus seinen Gedanken, als sie sich La Guaira näherten. Auch an Bord stieg die Spannung, sobald Thor noch mehr Segel setzte und die unsichtbare Küste ansteuerte. Stunde auf Stunde verging. Von den Rüsten vorne, wo zwei Mann ständig loteten, kamen unterdrückte Rufe. Was sie aussangen, wurde sorgsam mit der Seekarte und den Notizen verglichen, die sich Bolitho nach seinem Gespräch mit Kapitän Price gemacht hatte.
Der plumpe Leichter an der Schleppleine wurde unablässig ausgepumpt; es war ein Wettlauf mit der Zeit, der, wie Imrie zugab, innerhalb weniger Stunden nach Verlassen des Hafens begonnen hatte. Jede steile See drohte, ihn zu überfluten. Der Verlust des Leichters aber, der die schweren Mörser der Thor und ihre Bedienungen trug, hätte eine Katastrophe bedeutet.
Bolitho streifte ruhelos auf dem engen Achterdeck umher und hielt sich das Land vor Augen, wie er es am Spätnachmittag gesehen hatte. Er hatte sich noch einmal aufgerafft und war aufgeentert, diesmal in den Großmast. Von da oben hatte er im zunehmenden Dunst die charakteristischen Landmarken von La Guaira, die weite, blaugraue Kette der Caracasberge und weiter westlich davon die sattelförmigen Gipfel der Silla de Caracas erblickt. Penhaligon konnte auf seine Navigation wirklich stolz sein.
Allday war Bolitho kaum von der Seite gewichen, seit sie an Bord gekommen waren. Jetzt hörte Bolitho seinen unruhigen Atem und das Trommeln seiner Finger am Griff des schweren Entermessers. Bolitho betastete die ungewohnte Form des eigenen Gehänges. Er hoffte, daß Allday seinen Entschluß, den alten Familiendegen auf Hyperion zurückzulassen, verstand. Er hatte ihn schon einmal beinahe verloren. Allday würde annehmen, er hätte ihn nur deshalb bei Ozzard gelassen, weil er nicht an seine Rückkehr glaubte. Immerhin handelte es sich um ein
Unternehmen auf feindlichem Territorium. Und eines Tages sollte Adam den Degen tragen. Er durfte nie wieder in Feindeshand fallen.
Später, in Imries kleiner Kajüte und hinter den geschlossenen Läden der Heckfenster, hatten sie eingehend die Seekarte studiert. Thor war gefechtsklar, aber ihre Chance würde erst kommen, wenn der erste Teil des Plans gelang.
Bolitho griff die Untiefen und die Fahrwasserwindungen mit dem Zirkel ab, wie es wohl auch Price getan hatte, ehe sein Schiff hier auf Grund lief. Die anderen standen dicht um ihn herum: Imrie und sein Segelmeister, Leutnant Parris und der Zweite Leutnant, der den Angriff decken sollte.
Der Admiral überlegte, ob Parris sich wohl fragte, warum das Auspeitschen auf Havens Befehl hin aufgeschoben wurde. Und weshalb Haven darauf bestanden hatte, die beiden Delinquenten mit den dreißig anderen von Bord zu schicken. Vermutlich meinte er, alle schlechten Eier gehörten in einen Korb.
Bolitho zog seine Uhr heraus und legte sie unter die niedrig hängende Lampe.
«Wir werden mit Thor in der nächsten halben Stunde ankern. Unmittelbar darauflegen alle Boote ab, die Jolle an der Spitze. Es muß gelotet werden, aber leise. Heimlichkeit ist lebenswichtig. Wir müssen bei Tagesanbruch auf Position sein.»
Alle machten entschlossene Gesichter.»Noch Fragen?»
Dalmaine, der Zweite Leutnant der Thor, hob die Hand.»Was ist, wenn der Don schon weg ist?»
Wie leicht es für sie jetzt war, mit ihm zu reden, ohne die einschüchternden Epauletten eines Vizeadmirals vor Augen. Selbstsicher auf ihrem eigenen Schiff, hatten sie offen von ihren Erwartungen und Bedenken gesprochen.
«Dann haben wir eben Pech gehabt«, lächelte Bolitho.»Aber es liegen mir keine Meldungen vor, wonach ein so großes Schiff die Heimreise angetreten hat.»
Der Leutnant fragte nochmals:»Und die Batterie, Sir?
Angenommen, wir können sie nicht in einem Überraschungsangriff erobern?»
Es war Imrie, der jetzt antwortete.»Dann, Mr. Dalmain, war all Ihr Stolz auf die Mörser unangebracht.»
Alle lachten, ein gutes Zeichen.
Bolitho erklärte:»Wir zerstören die Batterie als erstes, dann kann Thor durch die Untiefen folgen. Ihre Karronaden werden mit den Wachbooten aufräumen. Und danach greifen wir an.»
Er stand vorsichtig auf, achtete auf die niedrigen Decksbalken.
Parris sagte:»Und wenn wir zurückgeschlagen werden?»
Ihre Blicke trafen sich über dem kleinen Tisch. Bolitho bemerkte wieder das zigeunerhaft gute Aussehen des Leutnants, die unbekümmerte Aufrichtigkeit in seiner Stimme. Ein Westengländer, vermutlich aus Dorset. Alldays indiskreter Hinweis kam Bolitho in den Sinn und das Frauenporträt in Havens Kajüte.
Er entgegnete:»Das Schatzschiff muß auf jeden Fall versenkt werden, am besten durch Brandstiftung. Das kann zwar seine spätere Bergung nicht verhindern, aber die Dons doch beträchtlich aufhalten.»
«Verstehe, Sir. «Parris rieb sich das Kinn.»Der Wind kommt mehr von achtern, das könnte uns helfen. «Er sprach gelassen, nicht wie ein Mann, der am nächsten Morgen tot sein oder unter dem Messer eines spanischen Chirurgen schreien konnte; eben wie ein Mann, der zu befehlen gewohnt war. Er erwog Alternativen: angenommen, wenn, vielleicht.
Bolitho beobachtete ihn.»Wären wir dann soweit, Gentlemen?»
Sie hielten seinem Blick stand. Wußten sie alles Notwendige? fragte er sich. Würden sie seinem Urteil trauen? Haven jedenfalls traute keinem.
Imrie scherzte:»Tja, Sir Richard, zu Mittag werden wir alle reiche Leute sein.»
Sie verließen die Kajüte, in der Enge vornübergebeugt und tastend. Bolitho wartete, bis Imrie allein zurückblieb.
«Auch das muß noch gesagt werden: Wenn ich falle, müssen Sie sich zurückziehen, sobald Sie dazu in der Lage sind.»
Imrie schaute ihn nachdenklich an.»Wenn Sie fallen sollten, Sir Richard, dann nur, weil ich versagt habe. «Und mit einem Blick in die Runde:»Aber wir werden Sie stolz auf uns machen, warten Sie's nur ab, Sir!»
Bolitho trat in die Dunkelheit hinaus, die funkelnden Sterne beruhigten ihn. Warum konnte er sie noch immer nicht für selbstverständlich nehmen? Simple Treue und Ehrlichkeit. Von so vielen Menschen daheim wurden sie gering geschätzt.
Thor ließ den Anker fallen. Als die Trosse steifkam und das Schiff sich in die Strömung drehte, wurden die Boote außenbords gesetzt. Das geschah so schnell, daß Bolitho mutmaßte, der Kommandant hätte seine Leute seit dem Verlassen von English Harbour für diesen Augenblick gedrillt.
Er selbst setzte sich ins Heck der Jolle, die auch in der Dunkelheit sichtbar niedrig im Wasser lag, bei dem Gewicht von Menschen und Waffen. Er hatte Hut und Rock weggelassen und hätte als einfacher Leutnant wie Parris durchgehen können. Allday und Jenour zwängten sich neben ihn, und während Allday die Ruderer kritisch musterte, äußerte der Flaggleutnant aufgeregt:»Das werden die mir niemals glauben.»