Somervell blätterte lächelnd in den Frachtpapieren der Ciudad de Sevilla. »Tod und Teufel, damit muß selbst Seine Majestät zufrieden sein. «Er schaute wieder hoch.»Ich weiß, Sie trauern der Brigg nach, wie es der Navy geziemt. Doch gemessen an dem, was wir gewonnen haben, war es ein kleines Opfer.»
Bolitho zuckte die Achseln.»Vielleicht für jene, die nicht ihre kostbare Haut zu Markte tragen müssen. Offen gesagt, ich hätte lieber die Consort herausgeholt.»
Bedächtig verschränkte Somervell die Arme.»Sie haben Glück gehabt. Aber wenn Sie Ihren Ärger nicht zügeln oder ihm ein anderes Ziel geben, wird Sie das Glück verlassen, fürchte ich. Machen Sie also das Beste draus.»
Die Tür öffnete sich, und Jenour spähte suchend herein.
Bolitho entschuldigte sich, doch Somervell schien gar nicht hinzuhören. Er tauchte schon wieder in einer Welt von Gold und Silber unter.
Jenour flüsterte:»Ich fürchte, Commander Murray macht es nicht mehr lange, Sir Richard.»
Bolitho folgte ihm über die breite, fliesenbedeckte Terrasse, die zum Behelfslazarett führte. Immerhin hatten sie eins. Männer, die sic h mit im Kampf erlittenen Wunden abquälten, sollten nicht das Lager mit Soldaten teilen, die am ansteckenden Gelben Fieber starben.
Bolitho blickte flüchtig auf die See hinaus, bevor er das Gebäude betrat. Sie wirkte bedrohlich, der Himmel ebenfalls. Zog ein Sturm auf? Er würde sich mit dem Segelmeister der Hyperion beraten müssen.
Murray lag mit geschlossenen Augen da, als wäre er bereits tot. Obwohl er auf der westindischen Station zwei Jahre gedient und eine Haut wie Leder hatte, war sein Gesicht jetzt kreideweiß. Der Chirurg der Hyperion, George Minchin, weniger zynisch als die meisten seiner Kollegen, hatte geäußert:»Ein Wunder, daß er bisher überlebte. Sein rechter Arm war fort, als sie ihn auffischten, und ich mußte ihm noch ein Bein abnehmen. Er hat eine kleine Chance, aber…»
Das war tags zuvor gewesen. Doch Bolitho hatte genügend vom Tode gezeichnete Gesichter gesehen, um zu erkennen, daß es jetzt mit Murray zu Ende ging.
Minchin räumte seinen Stuhl und trat ans Fenster. Durch ein anderes schaute Jenour aufs Meer. Vielleicht hatte auch Murray es bis zuletzt angestarrt, wie einen Ausblick auf das Leben selbst. Bolitho nahm Platz.
Er entsann sich an den Vornamen des jungen Commanders.»Ruhen Sie sich aus, James. Ich bin hier.»
Murray jedoch strengte sich an, um noch einmal die Augen zu öffnen.»Es war die Balkensperre, Sir. «Er schloß sie wieder.»Sie riß der armen Vesta fast den Kiel heraus. «Er versuchte zu lächeln, was gespenstisch aussah.»Sie haben sie aber nicht gekriegt — die nicht…»
Bolitho nahm Murrays verbliebene Hand.»Ich werde dafür sorgen, daß man sich um Ihre Angehörigen kümmert. Wen haben Sie zu versorgen?«Seine Worte kamen ihm so leer vor, daß er hätte weinen mögen.
Murray strengte sich noch einmal an, aber seine Augen glichen nur noch flimmernden Schlitzen.»Ich — ich. «Das Bewußtsein verließ ihn langsam.»Meine Mutter — sonst niemand. «Seine Stimme wurde nahezu unverständlich.
Wie eine verlöschende Kerze, dachte Bolitho. Jenour schluckte schwer, als müsse er sich übergeben. Draußen vor der Tür regte sich Allday. Mit bemerkenswert klarer Stimme meldete sich Murray noch einmal.»Jetzt ist es dunkel, Sir. Da kann ich schlafen. «Seine Faust verkrampfte sich zwischen Bolithos Händen.»Danke für. «Und dann verstummte er endgültig.
Bolitho erhob sich langsam.»Ja, schlaf jetzt, mein Junge. «Er zog das Laken über das Gesicht des Toten und starrte so lange in das Sonnenlicht, bis es ihn blendete. Dunkel für immer.
Er ging zur Terrassentür. Jenour wollte etwas Tröstliches sagen, doch Bolitho drehte sich nicht um.»Laßt mich allein, bitte!»
Die steinerne Balustrade, auf die er beide Hände stützte, war heiß wie die Sonne auf seinem Gesicht. Er hob den Kopf und starrte erneut in die blendende Helligkeit. Er sah sich wieder als kleinen Jungen vor dem in Stein gemeißelten Familienwappen über dem großen Kamin in Falmouth stehen. Dann war sein Vater hinzugekommen und hatte ihn auf den Arm genommen. Die Worte unter dem Wappen, die er ihm vorlas, hatten sich ihm für immer eingeprägt: pro libertate patria — für die Freiheit des Vaterlandes. Dafür waren junge Männer wie Murray, Dunstan und Jenour bereit zu sterben. Dabei hatten sie noch nicht einmal richtig zu leben begonnen.
Er ballte die Fäuste, bis sie schmerzten. Als er zu seiner Linken Schritte hörte, drehte er sich rasch um. Er hatte so lange in die Sonne geblickt, daß er nur einen undeutlichen Schatten zu erkennen vermochte.»Wer ist da? Was wünschen Sie?«fragte er scharf und ärgerlich ob seiner Hilflosigkeit.
Die Frau sagte:»Ich wollte zu dir. «Sie blieb auf der obersten Stufe der großen Steintreppe ganz still stehen.»Ich hörte von meinem Mann, was geschah. «Nach einer Pause, die Bolitho endlos vorkam, setzte sie hinzu:»Geht es dir gut?»
Er blickte zu Boden und sah die Fliesen Kontur gewinnen. Der Schmerz und der Schleier in seinem Auge ließen langsam nach.
«Ja. Einer meiner Offiziere ist gestorben«, sagte er heiser.
Sie hielt sich noch immer von ihm fern, als ob sie ihn fürchte.»Ich weiß. Es tut mir ja so leid.»
Bolitho sah sich um wie nach einem Fluchtweg. Dann aber ging es mit ihm durch.»Wie konntest du ausgerechnet diesen Mann heiraten! Ich habe schon manchen gefühllosen Bastard in meinem Leben gesehen, aber. «Er rang um Fassung. Sie hatte wieder seinen wunden Punkt getroffen. Gleichsam nackt und bloß, konnte er sich weder verteidigen noch erklären.
Sie antwortete nicht direkt.»Hat er auch nach dem zweiten Schatzschiff gefragt?»
Bolitho fühlte, daß ihn der Kampfgeist verließ. Auch er hatte beinahe erwartet, daß Somervell ihn danach fragen würde. Zum Glück für sie beide hatte er sich aber zurückgehalten. So erwiderte er nur:»Entschuldige, das war unverzeihlich. Ich habe kein Recht, in dieser Sache deine oder seine Motive zu erforschen.»
Sie betrachtete ihn nachdenklich, während sie mit einer Hand die Spitzenmantilla auf ihrem dunklen Haar festhielt, als ein heißer Windstoß über die Terrasse fegte. Dann trat sie näher und sah ihm ins Gesicht.»Du siehst erschöpft aus, Richard.»
Endlich wagte er, sie anzusehen. Sie trug ein seegrünes Kleid, aber sein Herz sank, als er ihre feingeschnittenen Gesichtszüge und ihre erregenden Augen nur verschwommen erkannte. Er mußte verrückt gewesen sein, so lange in die grelle Sonne zu starren. Der Londoner Arzt hatte ihn gewarnt, es war das Schlimmste, was er tun konnte.
Er erwiderte:»Ich habe sehr viel an dich gedacht. Mehr als ich durfte, weniger als du verdienst.»
Sie spannte ihren Fächer auf und bewegte ihn im Wind wie den Flügel eines Vogels.»Ich reise bald ab. Vielleicht hätten wir uns besser nicht wiedergesehen. Wir müssen beide versuchen.»
Er griff nach ihrem Handgelenk, ungeachtet eines möglichen Zuschauers, aus Angst, auch sie noch zu verlieren, nachdem er schon so vieles verloren hatte.
«Ich kann nicht! Es ist die Hölle, die Frau eines anderen zu lieben. Aber bei Gott, so steht es um mich!»
Sie zog sich nicht zurück, versteifte nur ihr Handgelenk in seinem Griff.
«Du sprichst von Hölle? Du weißt ja nicht, was das heißt! Das weiß nur eine Frau, die einen verheirateten Mann liebt. «Sie ließ alle Vorsicht fallen.»Ich sagte dir einmal, daß ich für dich hätte sterben mögen. Jetzt scheinst du zu denken, daß du einfach wieder zurückkommen kannst, nachdem dein Leben offenbar ruiniert ist. Weißt du denn nicht, was du mir damit antust, verdammt noch mal? Ja, ich habe Lacey geheiratet, weil wir einander brauchten, aber aus Gründen, die du nie verstehen wirst. Ich kann kein Kind bekommen, und auch das hast du damals gewußt. Dagegen hat dir deine Frau eine Tochter geschenkt. Also, für wen ist es die Hölle — für wen?»
Sie riß sich los. Ihre Augen blitzten, und unter der Mantilla fielen lockere Haarsträhnen hervor.