So konnte es nicht weitergehen. Sie saßen hier wie auf einem Pulverfaß. Zudem wurde das Frischwasser wieder knapp, was in den überfüllten Messedecks Unruhe hervorrufen konnte.
Vom Feind fehlte jede Spur. Hyperion und ihre Geleitschiffe lagen westlich von Sardinien, während Herrick und sein erschöpftes Geschwader von der Straße von Messina bis nördlich zur Bucht von Neapel patrouillierte.
Der andere Bewohner der Kajüte hüstelte höflich. Bolitho sah auf und lächelte.»Routine, Sir Piers, aber es wird nicht mehr lange dauern.»
Sir Piers Blachford lehnte sich in seinem Sessel zurück und streckte die Beine aus. Den Offizieren des Geschwaders war seine Ankunft mit der letzten Kurierbrigg lediglich als eine weitere Einmischung Londons erschienen: ein Zivilist, den man ihnen schickte, um zu sondieren und zu untersuchen, ein abzulehnender Eindringling.
Doch dieser merkwürdige Mann hatte nicht lange gebraucht, das alles zu ändern. Wenn sie ehrlich waren, bedauerten die meisten von denen, die sein Eintreffen geärgert hatte, nun seinen Fortgang.
Blachford war ein Seniormitglied des Kollegiums der Chirurgen und einer der wenigen, die sich freiwillig gemeldet hatten, die Geschwader der Navy zu besuchen, ungeachtet der eigenen Unbequemlichkeit. Er sollte die medizinische Versorgung in den spartanischen und oftmals entsetzlichen Verhältnissen eines Kriegsschiffs untersuchen. Als Mann unerschöpflicher Energie schien er niemals zu ermüden, wenn er von einem Schiff zum anderen gereicht wurde, sich mit den Bordärzten beriet und die Kommandanten über eine bessere Nutzung ihrer mageren Versorgungsmöglichkeiten der Kranken unterrichtete.
Obendrein war er gut zwanzig Jahre älter als Bolitho und dünn wie ein Bolzen, mit der längsten und ausgeprägtesten Nase, die Bolitho jemals gesehen hatte. Sie war mehr ein Instrument seines Gewerbes als ein Teil seines Gesichts. Blachford war sehr groß, und das Herumkriechen in den engen Decks und das Überprüfen von Lagerräumen und Krankenrevieren mußten seine Kräfte und seine Geduld sehr beanspruchen. Trotzdem hatte er nie geklagt. Bolitho würde ihn vermissen. Die abendliche Unterhaltung mit einem Mann, dessen Beruf heilte statt Feinde bekämpfte, war ein seltener Genuß für ihn gewesen.
Bolitho hatte zwei Briefe von Catherine erhalten. Beide waren in dem gleichen Päckchen mit einem Schoner gekommen. Sie lebte angenehm und sicher in Hampshire in dem Haus, welches Keens Vater gehörte, einem einflußreichen Geschäftsmann der Londoner City. Catherine war ihm ebenso willkommen wie seine künftige Schwiegertochter Zenoria. Der Vorteil lag auf beiden Seiten, weil eine von Keens Schwestern, deren Mann als Leutnant in der Kanalflotte gefallen war, ebenfalls dort wohnte. So waren die drei einsamen Frauen einander ein Trost.
Bolitho gab Yovell einen Wink, der die Papiere zusammenraffte und verschwand, und sagte zu Blachford:»Ich nehme an, daß Ihr Schiff nun bald eintreffen wird. Hoffentlich haben wir bei Ihren Nachforschungen helfen können.»
Der Chirurg beäugte ihn nachdenklich.»Wenn ich diese Höllenlöcher sehe, in denen die Verwundeten und Kranken leiden müssen, bin ich immer wieder erstaunt, daß unsere Verluste nicht noch größer sind. Es wird einige Zeit in Anspruch nehmen, um unsere Ergebnisse im Kollegium auszuwerten. Aber sie ist gut investiert und wird schließlich Menschenleben retten. Blutverlust, Wundbrand und der damit einhergehende Schock, alles muß unterschiedlich behandelt werden.»
Bolitho versuchte sich diesen hageren Mann mit dem wirren weißen Haar im Schlachtgetümmel vorzustellen. Zu seiner Überraschung fiel es ihm nicht schwer. Er sagte:»Das sind die Dinge, die wir alle fürchten.»
Blachford lächelte schwach.»Sie sind sehr ehrlich. Man neigt dazu, sich Flaggoffiziere als ruhmsüchtige Männer ohne Herz vorzustellen.»
Bolitho lächelte zurück.»Äußerlich scheinen unsere beiden Welten sehr verschieden zu sein. Als ich mein erstes Schiff betrat, war ich noch ein Kind. Ich mußte erst lernen, daß die vollgepferchte, erschreckende Welt zwischen den Decks nicht eine bloße Masse war, ein geistloses Instrument. Es dauerte lange«, sein Blick folgte den glitzernden Reflexen in der Kajüte, als sich Hyperion in der Brise drehte,»und ich lerne noch immer.»
Durch das offene Oberlicht kamen schrille Pfiffe und das Tappen nackter Füße, als die Wachgänger an die Brassen liefen. Die großen Rahen mußten jedem Windhauch angepaßt werden. Auch Parris' Stimme war zu hören wie damals, als einer der seltenen stürmischen Levanter überraschend aus Ost über sie hereinbrach und das Schiff ins Chaos stürzte.
Ein Mann war über Bord gefallen und achteraus getrieben, während das Schiff mit dem Sturm kämpfte. Der Mann mußte mit dem Tod rechnen, denn kein Kommandant konnte bei dieser Windstärke beidrehen, ohne den Verlust seiner Masten zu riskieren. Doch Keen war an Deck gewesen und hatte die Gig aussetzen lassen. Da der Mann schwimmen konnte, hatte er eine
Chance, das Boot zu erreichen. Allerdings gab es Kommandanten, die unter diesen Umständen die Meinung vertreten hätten, ein Boot sei mehr wert als ein Seemann, der ohnehin sterben müsse.
Parris war mit einigen Freiwilligen in die Gig gestürzt und davongepullt. Am nächsten Morgen war der Sturm vorbei, und sie hatten das Boot mit dem halb ertrunken geretteten Seemann wiedergefunden.
Parris hatte nach diesem Zwischenfall einen Rückschlag erlitten. Blachford hatte seine Schulterwunde untersucht und alles getan, was er konnte. Und Keens Respekt vor Parris', vor seiner fanatischen Entschlossenheit, war gewachsen. Dank seiner Hilfe gab es jetzt in Portsmouth eine Familie, die nicht zu trauern brauchte.
Auch Blachford mußte Parris' Stimme erkannt haben. Er bemerkte:»Das war tapfer von Ihrem Ersten, die meisten hätten es nicht einmal versucht. Es ist furchtbar, mit ansehen zu müssen, wie sich das eigene Schiff immer weiter entfernt, bis man ganz allein ist.»
Bolitho rief nach Ozzard.»Etwas Wein gefällig?«Er schmunzelte.»Man macht sich auf diesem Schiff nur unbeliebt, wenn man um Wasser bittet. «Aber der Witz beschönigte die Wahrheit. Er würde das Geschwader bald aufsplittern müssen, wenn es nicht gelang, die Schiffe mit Frischwasser zu versorgen.
Die ganze Zeit betrachtete Blachford den Vizeadmiral nachdenklich. Er hatte sein verletztes Auge einmal im Gespräch erwähnt, das Thema aber fallen lassen, als Bolitho leicht darüber hinwegging. Jetzt sagte der Chirurg unvermittelt:»Sie müssen etwas für Ihr Auge tun. Ich kenne in London einen tüchtigen Kollegen, der es gern untersuchen würde, wenn ich ihn darum bitte.»
Bolitho beobachtete Ozzard, der den Wein eingoß und mit keiner Miene verriet, daß er jedem Wort lauschte.»Was könnte ich schon tun? Soll ich mein Geschwader verlassen, obwohl es jeden Tag auf den Gegner treffen kann?»
Blachford blieb ungerührt.»Sie haben einen Konteradmiral.
Vertrauen Sie Ihrem Stellvertreter nicht? Ich hörte, daß Sie auch das Schatzschiff selbst eroberten, weil Sie das Risiko nicht delegieren wollten.»
Bolitho lächelte.»Vielleicht habe ich überhaupt nicht nach dem Risiko gefragt.»
Blachford nippte an seinem Wein, ohne die Augen von Bolitho zu lassen. Dieser fühlte sich an einen Reiher erinnert, der auf Beute lauert.
«Hat sich das nicht verändert?«Der Reiher blinzelte.»Sie spielen mit mir.»
«Eigentlich nicht. Kranke zu heilen, ist nur ein Aspekt meiner Arbeit. Befehlshaber zu verstehen, die darüber entscheiden, ob ein Mann leben oder sterben wird, ist dabei ebenfalls notwendig.»
Bolitho erhob sich und ging ruhelos umher.»Ich bin wie eine junge Katze, immer auf der falschen Seite der Tür. Zu Hause sorge ich mich um meine Schiffe und um meine Besatzungen. Auf See sehne ich mich nach England, nach dem Gefühl weichen Rasens unter den Füßen, dem Geruch frischgepflügter Erde.»