Sie hat ihren Kopf auf den rechten Arm gebettet, die schwarzen Haare bedecken das Gesicht, die braunen Beine ragen über den Mauerschatten hinaus und werden von der Sonne erwärmt.
Giannina träumt. Sie hört, wie Giovanni singt. Die Flut hat die Steinstufen der Villa überspült und steigt immer höher. Der Himmel ist mit drohenden, jagenden Wolken bedeckt. Ein Sturm peitscht das Wasser, es reicht Giovanni schon bis zu den Knien, ringsum ist nur Wasser, dichter Regen fällt. Aber lauter als das Heulen des Sturms und das Toben der Wellen klingt Giovannis Gesang. Grenzenlose Furcht packt Giannina. «Das Wasser! Giovanni!» Sie kann den Freund nicht mehr sehen, die Fluten schlagen über ihm zusammen… «Hier, Giannina, sieh, einen Spiegel aus purem Silber schenke ich dir. Du hast nur geträumt. Die Sonne scheint doch, Giannina. Siehst du nicht, wie er glänzt?»… «Wie groß meine Augen sind, Papa?»… Entsetzt schreit sie auf. Sie sieht im Spiegel das wutverzerrte Gesicht des Messer Celsi, er streicht mit einer heftigen Bewegung die Haarsträhne zurück und schreit: «Was hast du mit meinem Kapaunchen gemacht, du Diebin? Das Haus brennt ab. Hilfe, das Haus brennt ab…» Giannina will den Spiegel wegwerfen, aber sie kann kein Glied rühren. Die Finger des Messer Celsi fassen nach ihrem Hals und pressen ihn zusammen…
Auf der Landstraße näherte sich eine seltsame Gesellschaft der steinernen Kapelle: Ein rüstiger alter Mann mit tiefbraunem, runzligem Gesicht und schwarzem, von Silberfäden durchzogenem Bart. Er war armselig gekleidet und trug einen gelben Hut mit einer prächtigen Feder daran. Sein kühnes Zigeunergesicht mit der gebogenen Nase verriet, daß er nicht italienischer Herkunft war. Auf seiner Schulter saß ein kleines Äffchen. Es hatte rote Samthöschen und ein gelbes Jackett an. Als es nach einem Schmetterling, der gerade vorüberflog, haschen wollte, fiel es fast herunter; im letzten Augenblick klammerte es sich noch an den Hals seines Herrn.
«Mach keine Dummheiten, Pippino», sagte der Alte. Er blieb stehen und schob den Hut zurück.
«Na, Herkules, kannst du noch laufen?» fragte er und drehte sich um. «Heiß heute, alter Freund, was? Warte nur, dort an der Kapelle machen wir Rast.»
Herkules, ein mannsgroßer brauner Bär mit traurigen Augen, schüttelte seinen dicken Kopf, als hätte er die Worte seines Herrn verstanden.
Der Alte nahm die Deichsel des Wagens, den man eher als einen Käfig auf Rädern bezeichnen konnte, wieder auf und zog an dem Strick, um den Bären zum Weitergehen zu nötigen. Herkules trottete müde neben ihm her. Das Schloß an den dicken Gitterstäben der hohen Kiste klapperte, Pippino jagte mit geschickten Fingern einem Floh nach.
Zwei Studenten, die auf dem Wege zur Universität nach Padua waren, riefen dem Alten einige Scherzworte zu und machten ihn darauf aufmerksam, daß es Zeit sei, Pippino trockenzulegen. Im Eifer des Flohfangens hatte Pippino sich naß gemacht. Er zeigte ein bestürztes Gesicht, als sein Herr ihn ausschimpfte, und wußte vor Scham nicht, wohin er sehen sollte.
An der Kapelle blieb die kleine Karawane stehen. «So, Herkules, ich lasse dich jetzt ein wenig los. Bleib schön in der Nähe, gleich gibt's was zum Fressen. Und dir, Brüderchen, ziehn wir mal die Hosen aus. Du bleibst angebunden, sonst rennst du mir davon.»
Pippino hüpfte vor Freude, daß er die lästigen Kleider los war, auf und nieder. Während der Alte den Käfig aufschloß, um Futter zu holen, lief Herkules um die Kapelle herum und blieb überrascht vor dem im Gras liegenden Mädchen stehen.
Der Bär war kaum ein Jahr alt gewesen, als er in die Gewalt der Menschen gekommen war. Er wußte nichts mehr von den hohen Karpatenbergen mit den dunklen, schweigenden Wäldern, die einst seine Heimat gewesen waren. Soweit er zurückdenken konnte, war er von Menschen umgeben gewesen, die verlangten, daß er sich in den wunderlichsten Bewegungen nach dem Takt einer kleinen Trommel auf zwei Beinen drehen solle.
Herkules hatte sich damit abgefunden, daß er mit einem Ring durch die Nase als Tanzbär von Land zu Land ziehen mußte. Er war froh, in dem alten Zigeuner einen Herrn gefunden zu haben, der es nicht allzu böse mit ihm meinte.
Die Menschen auf den Basaren des Orients und den Jahrmärkten und Messen Spaniens, Frankreichs, Deutschlands und Italiens waren oft schlecht zu ihm gewesen, wenn er müde war von dem anstrengenden Tanz nach dem Takt des unerbittlichen Tamburins. Herkules hatte in seinem langen Leben die Erfahrung gemacht, daß es am besten sei, alle Wünsche der Menschen zu erfüllen.
Er erinnerte sich an ein Erlebnis im Hafen von Alexandria. Damals gehörte er einem jungen, heißblütigen Araber, der nur darauf bedacht war, recht viel Geld zu verdienen und ihn von früh bis abends tanzen ließ. An einem Nachmittag mußte er auf einem öffentlichen Platz, umgeben von betrunkenen, schreienden Zuschauern, seine Künste zeigen. Er war so erschöpft, daß er sich nur noch mit äußerster Mühe aufrichten konnte. Die Sonne schien unerbittlich heiß. Immer wieder riß ihn das Trommeln des Tamburins und das Rasseln der Schellen hoch und zwang ihn, sich im Tanz zu wiegen und zu drehen. Selbst die Mulis und Kamele, die am anderen Ende des Platzes standen, hatten Erbarmen mit ihm und stießen klagende Schreie aus. Die Menschen aber wollten, daß er ihren Willen erfülle. Sein Herr riß so heftig an dem Nasenring, daß er sich vor Schmerzen aufbäumte.
Die Händler ließen ihre Teppiche, Früchte, Glasperlen, Töpferwaren und feingeschliffenen Waffen aus den Augen, um sich das Schauspiel anzusehen. Einige schimpften über die Grausamkeit, die anderen jedoch, gleichgültig gegen die Schmerzen des Tieres, machten den Bärenführer durch anfeuernde Zurufe noch wütender. Er bearbeitete Herkules mit Fußtritten; als das nichts nützte, zog er sein Messer und stach den Bären viermal in die Seite. Blut floß über das braune, verschmutzte Fell. «Tanze, du Satansbär», schrie der Araber und schlug wild auf das Tamburin.
«Gleich wird er tanzen», rief einer aus der Mitte der Zuschauer und schlug sich, trunken lachend, auf die Schenkel.
Herkules spürte keinen Schmerz und keine Erschöpfung mehr, als er sich aufrichtete und mit einem einzigen Tatzenhieb seinen Peiniger niederstreckte. Das Tamburin flog in die Zuschauermenge, die entsetzt auseinanderstob. Herkules hatte alle Überlegung verloren. Er lief hinter den schreienden Menschen her, riß eine Holzbude mit Töpferwaren um, brachte die Mulis und Kamele in Verwirrung, rannte durch menschenleere Gassen und fand, geleitet durch einen gütigen Stern, den Ausgang der Stadt.
Herkules wußte, daß er um sein Leben lief. Darum war er bemüht, aus der Nähe der Menschen zu kommen. In einem Dickicht ließ er sich nieder und verbrachte die Nacht. Tagelang irrte er durch das Land. Er fand nur wenig Nahrung; so entschloß er sich schließlich, wieder Menschen aufzusuchen, und trottete in das nächste Dorf, das nur aus wenigen Häusern bestand. Willig ließ er sich einfangen und in einen alten Stall sperren. Er war so heruntergekommen, daß er fast zwei Tage und zwei Nächte schlief. Zwischendurch verschlang er alles, was man ihm in den Trog schüttete.
Der Zufall wollte es, daß in dieser Zeit der alte Zigeuner mit seiner achtjährigen Enkelin Zsusinka und dem Äffchen durch das Dorf wanderte. Er kam aus Kairo und war auf dem Wege nach Jerusalem. Für wenig Geld erwarb er den Bären und nahm ihn mit auf seinen weiten Reisen durch die Welt.
Das Leben war nun besser geworden für Herkules. Die kleine Zsusinka hatte den großen gutmütigen Burschen gern, sie sorgte dafür, daß er gut untergebracht wurde und gab ihm heimlich von den Süßigkeiten ab, die sie manchmal auf ihren Bettelgängen erhielt. Herkules wurde ihr Freund und Spielgefährte.