Leider währte diese lichte Zeit nur wenige Jahre. In Damaskus geschah es, daß Zsusinka die Aufmerksamkeit zweier Sklavenhändler erregte. Sie boten dem Alten eine für seine Verhältnisse hohe Summe und versprachen ihm mit vielen schönen Worten, das Mädchen einem reichen Herrn zu geben, der sie wie eine Prinzessin behandeln würde. Zsusinka war zwölf Jahre alt und von außergewöhnlicher Schönheit. Die Zeiten waren schwer, und der Alte wußte, daß er sie eines Tages hergeben mußte. Lange überlegte er, bis er schließlich seine Einwilligung gab.
Traurig nahm er von Zsusinka Abschied und zog mit Herkules und Pippino weiter. Er tröstete sich damit, daß nun für Zsusinka das elende Landstreicherleben vorbei sei. Sicher würde sie es jetzt besser haben, die beiden Händler hatten es ihm ja mit tausend Schwüren versichert und Allah als Zeugen angerufen.
Herkules hatte von dem Abschied kaum etwas gemerkt, denn Zsusinka war sehr stolz gewesen und hatte ihren Schmerz zu verbergen gewußt.
Als Herkules jetzt das Mädchen im Schatten der Kapelle liegen sah, spürte er ein sonderbar helles, frohes Gefühl, das alle Müdigkeit verscheuchte. Er glaubte den Klang einer bekannten Stimme zu hören. Freudig brummend beugte er den Kopf über Gianninas Gesicht und beschnüffelte es mit seiner nassen Schnauze. «Was hast du denn, Herkules?» fragte der Alte.
Giannina, so unvermutet aus ihrem Schlaf gerissen, öffnete die Augen und sah das braune zottelige Gesicht verwundert an. Im ersten Augenblick glaubte sie, noch zu träumen; als sich aber Herkules zu seiner ganzen Größe aufrichtete und, einem inneren Drang gehorchend, ungeschickte Tanzbewegungen machte, als sie das Gras, die Blumen, den Himmel gewahrte und von der Landstraße ein Gespräch vorbeigehender Leute hörte, wußte sie, daß sie nicht mehr schlief. Merkwürdigerweise empfand sie keine Angst vor dem riesigen Tier, sondern war eher belustigt über seine Bewegungen.
«Herkules, was ist denn mit dir los? Du tanzt, ohne daß ich dich aufgefordert habe?» Der Alte stand an der Kapelle und schüttelte den Kopf. Aber dann sah er Giannina, die sich aufgesetzt hatte und die Haare aus dem Gesicht strich.
«So ist das also, Herkules», rief der Alte aus. «Du bist mir ja ein vornehmer Kavalier. Aber komm jetzt, das Fressen steht bereit. Und du, meine kleine Blume», wandte er sich an Giannina, «schläfst hier ganz allein in den Tag hinein und hast gar keine Furcht vor meinem Herkules? Brauchst dich nicht zu fürchten, er hat die kleinen Mädchen gern.»
Er setzte sich neben Giannina ins Gras; Herkules schnupperte in die Luft und verschwand um die Ecke, wo sein Fressen bereitstand.
«Ja, ja», erzählte der alte Zigeuner, «Herkules ist ein kluges Tier. Meine Zsusinka hat ihn geliebt wie einen Bruder. Sie war so schön wie der Mohn zwischen dem goldenen Korn…» Der Alte sah versonnen vor sich hin.
«Ihr hattet eine Tochter?» fragte Giannina neugierig. «Wo ist sie denn geblieben?»
«Ach, mein Töchterchen, wenn ich dir das erzählen könnte. Eine traurige Geschichte ist das. Seitdem Zsusinka von uns fort ist, hat uns das Glück verlassen.» Der alte Zigeuner sah sie mit einem schnellen Seitenblick an.
«Erzählt es mir doch, Großväterchen», bat Giannina. Sie hatte die Sorge um ihr eigenes Schicksal vergessen.
«Zsusinka war eine kleine Zauberin, wenn sie das Tamburin schlug und sich in den Hüften wiegte, wurden alle, die in ihren Zauberkreis gerieten, von der Tanzlust besessen. So war sie, meine Zsuska; die Hartherzigsten öffneten ihre Börsen, wenn sie kassieren ging. Sie brauchte nur ein einziges Wort zu sagen, um Herkules zum Tanzen zu bringen. Selbst wenn er müde war, richtete er sich auf und drehte sich willig. Ich muß oft mit ihm schimpfen, ehe er sich zum Tanzen bequemt, aber Zsusinka folgte er aufs Wort…»
Giannina hörte gespannt auf die einschläfernde Stimme des alten Zigeuners, der von Zeit zu Zeit einen abschätzenden Blick auf das Mädchen warf, als wolle er ergründen, ob seine Worte auch die beabsichtigte Wirkung hatten.
«Eines Tages kam ein reicher, vornehmer Herr, gekleidet wie ein Sultan, in seidenen gestickten Gewändern und sah meine Zsusinka tanzen. Er blieb stehen und schaute wie verzaubert zu. Oh, mein Töchterchen, wenn du Zsusinka gekannt hättest. Schön war sie in ihrem roten Kleidchen, wie eine Märchenprinzessin. Der Herr gab uns ein Goldstück und streichelte Zsusinka freundlich die Wangen. Dann nahm er mich zur Seite und bot mir fünfhundert gute Golddukaten für meine Zsuska…»
«Ihr habt doch nicht etwa eingewilligt?» fragte Giannina und wagte kaum zu atmen.
«Nicht für tausend Dukaten hätte ich sie hingegeben», erwiderte der Alte. «Aber du weißt doch, wie das ist, wenn sich ein vornehmer Herr etwas in den Kopf gesetzt hat. Eines Tages geht meine Zsusinka weg, um Futter und Wasser für Herkules und Pippino zu besorgen, und kommt nicht wieder. Ich habe sie gesucht, bin wohl zehnmal zum Kadi gelaufen und habe den reichen Herrn angezeigt, bis sie mich schließlich aus der Stadt gejagt haben. Froh konnte ich sein, daß sie mir nicht noch fünfzig Stockhiebe verabreichten. Wer fragt in der Welt nach einem armen, mutterlosen Zigeunermädchen?»
Der Alte sah traurig vor sich hin. Er hatte diese Geschichte schon tausendmal erzählt und sie mit immer neuen Einzelheiten ausgeschmückt, bis er schließlich selbst daran glaubte, daß alles so geschehen wäre, wie er berichtete.
«Aber was machst du so allein auf der Landstraße, meine Blume?» Er sah sie mit einem verschlagenen, listigen Ausdruck an. «Du siehst aus, als hättest du Kummer?»
Giannina, noch bewegt von der Geschichte des Zigeunermädchens, brauchte einige Augenblicke, bis sie sich wieder in die Wirklichkeit zurückfand. Ein dunkles Gefühl warnte sie, dem Alten von ihrem Schicksal zu erzählen. Da kam der Bär wieder zurück und schnüffelte freudig an ihrem Arm, als wolle er sie auffordern, ihn zu streicheln. Sie strich über sein braunes Fell und freute sich über sein vergnügtes Brummen.
«Du bist ein gutes Mädchen», sagte der Alte. «Gehst du jetzt zu deinen Eltern?»
Giannina verbarg ihren Kopf in Herkules' Fell. «Aber ich kann doch nicht nach Hause gehen», schluchzte sie, alle Vorsicht vergessend. «Nein, nein! Niemals wieder gehe ich nach Hause zurück!»
«So so! Dacht ich's mir doch, daß du Kummer hast, meine Blume. Schön bist du, wie meine Zsusinka. Weine nur nicht. Sieh, da ist auch noch der Pippino.»
Er nahm das Mädchen an die Hand und brachte es zu dem Karren.
«Das ist nun unsere ganze Familie. Auf den Pippino mußt du aufpassen. Er sitzt dir mit einem Male auf dem Kopf und zaust in deinen Haaren herum. Flöhe hat er auch wie Sand am Meer, aber wenn du ihn erst ein paar Tage gefüttert hast, wird er ganz zahm… Der Herkules folgt dir wie ein gehorsames Hündchen… Nun setz dich, meine Tochter, und erzähle mir, warum du nicht nach Hause zurückkehren kannst. Der alte Ferko wird schon einen Rat wissen…»
Paolo hatte ein schlechtes Gewissen, weil er mit den beiden Knaben weggegangen war, ohne Marcos Mutter zu unterrichten. Aber jetzt war es zu spät. Sie befanden sich auf dem Wege nach Aquileja; ein Fischer aus Mestre hatte ihnen gestern gesagt, daß in diese Richtung ein Mädchen gegangen wäre, das nach der Beschreibung Giannina sein konnte.
Die drei waren recht niedergeschlagen. Vor ihnen lag die endlose Straße mit den ungezählten Wegkreuzungen, mit den Brücken, die sich über Bäche und Flüsse schwangen; sie mündete in Dörfer und Städte, wand sich geschickt durch die Häuser, kroch schlangengleich Anhöhen und Berge hoch und hatte keinen Anfang und kein Ende. Die Räder der schwerbeladenen Kaufmannszüge knirschten durch die ausgefahrenen Rinnen, bewacht von gemieteten Kriegsknechten, die mit Hellebarden und Armbrüsten bewaffnet waren. Aus der Grafschaft Tirol, von den Bergen des Erzbistums Salzburg, aus den Herzogtümern Kärnten und Steiermark, von überallher, mit den feinsten Verästelungen wie ein Spinnennetz über die Wälder, Äcker, Gebirge, Viehweiden, Flüsse und Häuser gebreitet, schienen die staubigen Straßen alle nach Venedig zu führen und von dort, in die Kanäle und das Meer mündend, auf unsichtbaren Schiffsstraßen nach den fernen Küsten zu greifen.