Vor einem von zwei mächtigen alten Bäumen beschatteten Gasthaus blieben die Wanderer stehen. Marco ging hinein, um sich nach Giannina zu erkundigen. Der Wirt gab ihm freundlich Auskunft. Wieder war es vergebens. Seit Tagen war kein Mädchen hier eingekehrt.
«Wir hätten den alten Francesco fragen sollen», sagte Giovanni. «Er weiß vieles, was anderen Menschen verborgen bleibt. Aber wir können doch jetzt nicht zurückgehen?»
«So viele Straßen gibt es, wo wird die kleine Giannina sein?» Paolo sah die Freunde fragend an.
«Wir müssen sie finden, und wenn wir bis ans Ende der Welt laufen sollen», erwiderte Marco. Insgeheim aber war er von tiefer Sorge um die Mutter erfüllt, die ja nicht ahnen konnte, wohin er so plötzlich verschwunden war.
Links und rechts der Straße rankten sich die Weinreben der Landschaft Friaul an den hölzernen Stäben empor. Kirchenglocken läuteten. Das Himmelsdach wölbte sich über das Land, hier und da von weißen Wolken bedeckt, deren Ränder rosa erglühten. Im Westen lag Venedig, vor ihnen, im Osten, öffnete ein Wald seine Pforte und ließ die Straße ein.
In weißes Leinen gekleidete Bauern arbeiteten gebeugt zwischen den Weinreben oder schleppten auf ihren Rücken Holzbütten mit Erde auf eine Anhöhe. Auf der anderen Straßenseite pflügte eine Frau mit einem Ochsengespann die Stoppeln der ersten Ernte um. Still und unbeweglich und ohne Gesang war der heiße Spätnachmittag; der Abend kündigte sich an.
Der kühle Atem des Waldes mit seinen unberührten, würzigen Düften wehte um die Wanderer. Eine alte Frau, die Holz sammelte, floh in den tiefen Baumschatten, als sie die Schritte hörte. Der Wald und das Land mit den Feldern und Weinbergen gehörte geistlichen Herren, die den kleinsten Holzdiebstahl streng bestraften.
«Wir sind nun schon den zweiten Tag unterwegs», sagte Paolo. «Bald ist die Nacht da und nirgends eine Spur. Laßt uns zurückgehen, Herr. Die Signora weiß nicht, wo wir sind. Sie ist krank und wird sich Sorgen machen.» Marco erwiderte nichts.
«Recht hat Paolo. Es hat keinen Zweck, weiterzulaufen. Vielleicht ist sie gerade in die entgegengesetzte Richtung gegangen und entfernt sich immer mehr von uns. Komm, Marco», sagte Giovanni, «wir gehen nach Venedig zurück und sprechen mit Gianninas Eltern. Dann können wir noch einmal aufbrechen…»
Marcos Gesicht war verschlossen und abweisend. Keiner sollte sehen, was ihn bewegte. Der Verstand sagte ihm, daß die beiden recht hatten; aber die Vorstellung, daß Giannina jetzt schutzlos über die Landstraße irre und wahrscheinlich nicht wisse, wo sie essen und schlafen solle, verdrängte noch alle vernünftigen Erwägungen. Viele Wünsche wohnen im Herzen der Menschen. Sie fallen wie Sterne hinein und erleuchten das Dunkel; dann verlöschen sie oder glimmen weiter, um irgendwann wieder neu und stärker aufzuflammen.
Der Wald dämpfte die Geräusche. Kaum drangen die Abendsonnenstrahlen durch das Blätterdach, grünlich und golden glänzten die erleuchteten Moosflecken, die Farnkräuter sahen wie seltsame, aus dem Boden wachsende Vogelflügel aus.
Vielleicht hat Giovanni recht, überlegte Marco. Wenn sie nun nach Padua geflohen ist? Dann führt uns jeder Schritt weiter von ihr weg. Außer in Mestre haben wir doch nirgends eine Spur gefunden. Im Gegenteil. Alles deutet darauf hin, daß sie diesen Weg nicht gegangen ist. Hat es da Zweck, bis Aquileja oder gar darüber hinaus zu laufen? Und die Mutter zu Hause? Wie wird sie sich über mein Verschwinden grämen.
In Marcos Herzen wurde es plötzlich unbarmherzig hell. Vielleicht drohte der Mutter sogar Gefahr? Warum hatte man ihn ermorden wollen? Und was bedeutete der geheimnisvolle Brief? Daß er das alles vergessen hatte!
O Mama, meine Mama, flüsterte es unhörbar in ihm. Die Bäume standen wie unheimliche Riesen zu beiden Seiten. Marco sah den breiten Rücken Paolos, der sich im Takt der Schritte bewegte; daneben ging Giovanni und bemühte sich, Schritt zu halten. Plötzlich blieb er stehen und wartete, bis Marco neben ihm war.
«Wenn sie nun nach Padua gegangen ist?» fragte er.
«Ich habe auch schon daran gedacht», erwiderte Marzo zögernd.
«Deine Mutter wird Angst um dich haben, Marco. Und auch mein Vater! Wir müssen erst einmal zurückgehen. Weißt du, ich habe das Gefühl, daß wir Giannina noch finden werden. Vielleicht ist sie ganz in der Nähe, und wir sind irgendwo an ihr vorbeigelaufen…»
«Es wird auch bald Abend», warf Paolo ein.
Marco sträubte sich nur noch zum Schein. Als Giovanni und Paolo langsam denselben Weg, den sie gekommen waren, zurückgingen, folgte er ihnen.
So gingen sie wieder Venedig zu, traten aus dem Wald in das freie Land hinaus und spürten die warme abendliche Luft. Die Hoffnung, Giannina zu finden, beschleunigte ihre Schritte. Diese Hoffnung war mit einem Male so stark geworden, daß sie die Müdigkeit und den Hunger vergaßen. Im Schatten des Waldes war ihnen die Suche nach dem Mädchen hoffnungslos erschienen, jetzt aber, im goldenen Abendschein, verstärkte sich die Gewißheit, daß sie Giannina finden würden.
Giovanni hatte das bestimmte Gefühl, daß die Freundin in der Nähe sein müsse, gerade, als hätte er von irgendwoher eine geheime Botschaft erhalten. Als er in der Ferne eine Menschengruppe erblickte, klopfte sein Herz wie ein Hammer gegen die Brust. Es waren, wie sich bald herausstellte, Bauersfrauen, die von den Feldern der Herren nach Hause zurückkehrten.
Um seine Enttäuschung zu verbergen, sagte er mit fester Stimme: «Ganz bestimmt treffen wir sie noch. Ich glaube, wir sind jetzt auf dem richtigen Weg.»
Ohne eine Antwort abzuwarten, lief er weiter, so daß die beiden Mühe hatten, ihm zu folgen.
Die vielen Wegkreuzungen, die ihnen vor Stunden alle Zuversicht geraubt hatten, störten sie nicht mehr. Vor ihnen lagen die stillen Häuser eines Dorfes, beherrscht von einer Burg, die links auf der Anhöhe lag. Zwei braun und weiß gefleckte Jagdhunde tummelten sich vor der heruntergelassenen Zugbrücke. Die Blicke der Wanderer wurden von den festgefugten Mauern angezogen, die rings die Wohngebäude und den gedrungenen Wachturm umgaben und wie eine drohende Faust auf der lieblichen Landschaft lasteten.
Sie vergaßen für Augenblicke, die Straße zu beobachten. Paolo war wohl der erste, der sich von dem Anblick trennen konnte. Nachher wollte jeder zuerst die ihnen entgegenkommende Gruppe gesehen haben. Doch dieser kleine freundschaftliche Streit war ohne Bedeutung. Jeder sagte sich, daß er diese Ahnung schon in seinem Herzen getragen habe, nachdem sie den. dunklen Wald verlassen hatten.
Paolo war es jedenfalls, der zuerst ausrief: «Was für eine komische Gesellschaft ist das? Ein Mann mit einem gelben Hut?» Er beschattete die Augen, weil ihn die Sonne blendete. «Und ein Mädchen ist bei ihm…»
«Giannina?» fragte Marco, noch ungläubig.
«Giannina!» rief Giovanni und lief der Gruppe entgegen. Da setzten sich auch Marco und Paolo in Bewegung, so daß sie fast gleichzeitig bei Giannina anlangten. Ferko, der alte Zigeuner, legte die Wagendeichsel auf die Erde und begrüßte die Herren, indem er seinen gelben Hut lüftete. Man sah seinem Gesicht nicht an, wie unwillkommen diese Begegnung ihm war. Hatte er sich doch am gestrigen Abend große Mühe gegeben, Giannina zum Mitgehen zu überreden, nun schien alles vergeblich gewesen zu sein.
«Da bist du, Giannina», sagte Giovanni. «Wir haben dich gesucht, Giannina.» Er ärgerte sich über diese alltäglichen Worte, aber was sollte er sagen, um alle Gefühle zum Ausdruck zu bringen?
«Giovanni? Marco?» sagte das Mädchen erstaunt, als seien ihr Geister begegnet und nicht lebendige Menschen, die sie seit Jahren kannte und die zu ihrem Leben gehörten wie das Wasser rings um Murano und wie der Aprikosenbaum im elterlichen Garten.