«Wir haben dich gesucht, Giannina», sagte auch Marco. «Uberall haben wir nach dir gefragt, aber keiner hatte dich gesehen. Wie konntest du nur davonlaufen, ohne uns etwas zu sagen? Und auf einmal bist du wieder da. Gut, daß wir dich getroffen haben, Giannina. Jetzt gehen wir schnell nach Hause.»
Ganz allmählich, wie Wachskerzen, die von Menschenhand eine nach der anderen ausgelöscht werden, erlosch die Freude in Gianninas Herzen. Nach Hause zurück, hatte Marco gesagt. Zum Messer Celsi?
«Komm, Herkules!» sagte der Zigeuner und öffnete den Käfig. «Kannst dir noch ein wenig die Füße vertreten. Tanz, mein Alter, tanze für unsere kleine Giannina.»
Dumpf und hart trommelte die Faust auf das Tamburin, aufreizend rasselten die Schellen. Herkules tanzte.
Pippino, der im Käfig bleiben mußte, rüttelte an den Gitterstäben.
Die Sonne verglühte im Westen, breite goldene Lichtstraßen führten von der Erde zu den roten, gelben, orangefarbenen und blaßvioletten Wolkentupfen.
«Hei, Herkules, tanze! Tanze für deine kleine Freundin! Bald wirst du an Kaiser- und Königshöfen tanzen!» Das Tamburin tönte.
«Unsere Zsusinka ist wieder bei uns. Siehst du sie? Tanze, tanze, Herkules. Ihr Haar ist wie der bleiche Wüstensand, aber wenn die Sonne scheint, ist es aus purem Gold!»
Herkules tanzte! Seine schwermütigen Augen sahen unverwandt auf Giannina. Auch Marco, Giovanni und Paolo waren in den Bann des alten Zauberers geraten. Das Feuer des Sonnenballs loderte über den ganzen Himmel hinweg. Herkules' Fell glänzte. Die Augen des alten Zigeuners glühten, seine Lippen murmelten Worte, die sich zu lauten Ausrufen steigerten und auf eine sonderbar erregende Weise den Takt des Tamburins begleiteten.
«Tanze, Herkules! Zsusinka ist wieder da, schwarz wie die Nacht sind ihre Haare geworden. Sie ist traurig. Ihre Wangen sind wie Milch. Das Gesicht weint! Tanze, Herkules! Bald wirst du vor Grafen und Fürstensöhnen tanzen!»
«Hört auf, Alter!» sagte Paolo mit rauher Stimme. «Macht das Mädchen nicht verrückt, es geht mit uns zurück!» Er kniete vor Giannina nieder und zog sie an sich. «Sieh mich an, Giannina. Fühle meine Arme. Diese Arme werden dich schützen. Keiner darf dir etwas zuleide tun.»
Das Tamburin verstummte jäh. Herkules setzte die Vorderfüße auf die Erde; Pippino sprang wütend im Käfig umher.
Ein Herr und eine Dame ritten über die Zugbrücke und näherten sich. Aus dem Weg, Zigeuner!» rief der Herr. Ferko, der mitten auf der Straße stand, trat mit eiliger Verbeugung zurück.
Die Dame sagte ihrem Begleiter einige leise Worte. Dieser nickte zustimmend. «Geh in den Burghof, Zigeuner. Sag, der Herr hätte dich geschickt. Kannst dir ein paar Soldi verdienen!»
Ferko verbeugte sich wohl zehnmal und schwenkte mit weiter Armbewegung den Hut. «In den Käfig, Herkules! Hast du's gehört? Zur Burg sollen wir kommen.»
«Geschlagen hat mich der Messer Celsi, mit den Füßen getreten und mit der Faust ins Gesicht geschlagen», sagte Giannina. «Was habe ich denn nur getan?»
Ihre Augen wurden dunkel vor Schmerz und Haß.
«Du gehst nie mehr zu ihm zurück.» Uber Marcos Gesicht huschte plötzlich ein freudiges Leuchten. «Ich werde mit meiner Mutter sprechen, Giannina. Sie ist krank und braucht Pflege. Du kommst zu uns, Giannina. Dann ist alles gut.»
«Du gehst nie mehr zum Messer Celsi», sagte auch Giovanni. «Ich habe jetzt einen Dolch, eine Vogelfeder kannst du im Fluge damit zerschneiden. Sieh ihn dir an, Giannina! Du brauchst nun wirklich keine Angst mehr zu haben… Dein Vater war ganz weiß im Gesicht, als er erfuhr, daß man dich geschlagen hat», erzählte er nach einer Pause weiter. «Eine Magd, die dich aus der Küche rennen sah, hat es ihm gesagt. Er hat einen Spiegel auf den Boden geworfen; mit dem Fuß hat er ihn zerstampft. Wenn deine Mutter ihn nicht zurückgehalten hätte, wäre er gleich zum Messer Celsi gelaufen… Weißt du schon, daß man Marco ermorden wollte?»
Giannina hatte sich aus Paolos Armen gelöst. So viele Eindrücke waren auf sie eingestürmt, daß nur der letzte Satz in ihrem Gedächtnis blieb. «Ermorden wollte man dich, Marco? Ist das wahr?»
«Giovanni und Paolo haben mich gerettet», erwiderte Marco.
«Hier, mit diesem Dolch wollte er Marco töten.» Giovanni hielt ihr den Dolch hin. Sie nahm ihn und legte ihn auf die flache Hand.
«Mein Vater hat einen Spiegel zerstampft?» fragte sie zusammenhanglos.
Herkules kam ein letztes Mal zu ihr und rieb den Kopf an ihrer Schulter. Dann ließ er sich gehorsam in den Käfig sperren.
«Lebt wohl, Großväterchen! Lebt wohl, Herkules und Pippino, ich kann nicht mehr mit euch kommen.»
«Leb wohl, meine Blume», sagte der alte Zigeuner. «Gott schenke dir Gesundheit und Reichtum. Ich ziehe nun weiter, meine Zsusinka suchen…»
Er nahm die Deichsel vom Boden und legte das Zugseil um. Die Räder setzten sich knarrend in Bewegung.
Der Sonnenball lag feurig über den dunklen Waldwipfeln. «Dachte schon, daß ich sie gefunden hätte, meine Zsusinka», sprach der Alte vor sich hin, «aber der alte Ferko hat kein Glück mehr…»
Der Käfig schwankte ungeschickt hin und her. Die Räder rollten in den ausgefahrenen Rinnen.
In der Ferne kläfften die Hunde.
TOD UND WÜRFELSPIEL
DIE NACHT WEHTE ZUM FENSTER HEREIN. Signora Polo lag ruhelos in ihrem Bett und starrte auf die Kerzen. Seit dem frühen Morgen regnete es. Der Herbst kündigte sich an. Venedig glich zu dieser Zeit einem großen, verlassenen Schiff, auf dem hier und da trübe Lichter schwanken.
Die Luft war feucht und ungesund, aber die Kranke verlangte, daß die Fenster und Läden geöffnet blieben. Neben ihrem Bett hing eine seidene Schnur, mit der eine Glocke in Schwingungen gebracht werden konnte. Signora Polo benutzte sie selten. Sie liebte die Einsamkeit, und sie fürchtete sie. Die stille Hoffnung, daß ihr Gatte mit seinem Bruder wiederkehren würde, war in den einsamen Nachtstunden am stärksten. Am stärksten waren aber auch die Zweifel. Tausend und aber tausendmal hatte sie die Gedanken zurückgewiesen, die ihr einflüstern wollten, daß er nicht mehr am Leben sei. Diese teuflischen, quälenden Gedanken kleideten sich in den Mantel der Vernunft; wie kann er noch am Leben sein, flüsterten sie, vor vierzehn Jahren ist er weggereist, und nie hat er ein Lebenszeichen gegeben. Er war doch ein kühner Mann und hat die Gefahren nicht gescheut. Viele Schiffe ruhen auf dem Grund des Meeres…
Die Nacht brachte aber auch die Erinnerung an die glücklichen Stunden mit Nicolo. So sehnte sie die Dunkelheit herbei und hatte Furcht vor ihr. Bleich und durchsichtig waren ihre Wangen geworden. Die Röte der Gesundheit hatte sie vor Jahren schon verlassen. Nur wenn Marco bei ihr war, belebte sich ihr Gesicht. Wenn er neben ihrem Bett saß, wenn sie ihm von Andrea Polo da San Felice, dem Großvater, und von Nicolo Polo, dem Vater, erzählen konnte, erlebte sie noch einmal die Vergangenheit und bildete sich für Minuten ein, daß alles frohe Gegenwart sei. «Euer Körper ist nicht krank, Signora», hatte der Arzt gesagt. «Eure Seele ist krank und raubt Euch den Willen zum Leben.»
Der flackernde Kerzenschein erleuchtete die roten Teppiche an den Wänden. Plötzlich befiel sie wieder die Angst; sie bäumte sich auf, als habe ein körperlicher Schmerz sie getroffen, die Hand griff nach der Schnur. Laut tönte die Glocke durch die Stille. Eilige Schritte nahten, Giannina trat ein.
«Was ist geschehen, Signora?» fragte sie. «Eure Augen glänzen. Habt Ihr Fieber? Ich werde den Arzt holen.»
«Nein, nein!» rief die Kranke. «Keinen Arzt. Wo ist Marco? Sag mir, wo Marco ist.» Sie griff nach Gianninas Hand. «Sag mir schnell, ist Marco im Hause?»