Der feine Regen und das sternenlose Dunkel wallten wie Trauerschleier vor den Fenstern.
Die Signora war so schwach nach dieser Anstrengung, daß sie nur mit Mühe die Hände auf der Bettdecke bewegen konnte. Giannina, mit braunem, gesundem Gesicht, beugte sich nieder und sagte, gütig wieeine kleine Mutter: «Marco ist doch im Hause, Signora. Er schläft so fest, daß er nicht einmal die Glocke gehört hat.» «Ist Paolo bei ihm?»
«Ja, Signora, Paolo schläft in seinem Zimmer, wie Sie es angeordnet haben.»
«Gib acht auf ihn, Giannina», flüsterte die Kranke, «Marco darf nie wieder weggehen! Hörst du! Er ist wie sein Väter, ich habe Angst, daß er eines Tages aufs Meer hinausfährt. Ich hasse das Meer!»
Sie dachte die gesprochenen Worte weiter: Wenn Nicolo zurückkommt, werde ich ihn bitten, von Venedig weg aufs feste Land zu ziehen. Ich kann kein Wasser mehr sehen, es lockt die Menschen hinaus und gibt sie nie mehr zurück, Überall an den Küsten des Meeres, angezogen durch seine geheime Kraft, sind Siedlungen und Städte entstanden. Venedig aber liegt inmitten des tückischen Wassers. Die Familien gehören nicht mehr sich selbst; das Meer teilt sie. Auf der einen Seite stehen Frau und Kinder, auf der anderen, unsichtbaren, handelt der Mann mit Gold, Diamanten, Fellen, Ziegenhäuten, Getreide und Teppichen, Ambra und Moschus, Jagdfalken und Gewürzen. Jedes Jahr opfert der Doge dem Meer einen goldenen Ring, vermählt Venedig mit dem Meer. Ein heidnischer, teuflischer Brauch!
«Ich habe Angst, Giannina!» sagte sie. «Schneuze die Kerzen, daß sie nicht verlöschen… Was ist das?» Sie richtete sich mühsam auf. «Die Türklinke bewegt sich, Giannina!» Marco trat leise ein. «Ich bin es doch, Mama. Fühlt Ihr Euch nicht wohl?»
Giannina ging aus dem Zimmer.
Setz dich, mein Sohn. Es ist gut, daß du gekommen bist. Schließe die Fenster. Ich will allein mit dir sein.»
Marco sah seine Mutter verwundert an. Er schloß die Fenster und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. Das Gesicht der Mutter war weiß wie die Kirschblüten im bläulichen Mondenschein.
Gelbes Licht fiel auf rote Teppiche und bunte Fensterscheiben. Auf dem Tisch, der auf geschnitzten Löwentatzen ruhte, stand ein kleiner, aus Elfenbein geschnitzter Elefant. Die Möbel waren dunkel. «Schläft Paolo bei dir?» fragte die Mutter.
Marco hatte diese Frage gefürchtet. Seitdem er auf der Suche nach Giannina drei Tage aus dem Hause gewesen war, hatte der getreue Paolo in seinem Zimmer geschlafen. Zwar wußte die Mutter nichts von dem Mordanschlag, der auf ihn verübt worden war, aber die dumpfe Furcht, die überall Gefahr für den Sohn sah, war durch die Ereignisse der vergangenen Wochen noch stärker geworden.
Heute nun hatte Paolo ihn um Urlaub gebeten, weil er glaubte, eine Spur gefunden zu haben. Was sollte er der Mutter antworten? Jede Aufregung war gefährlich für sie. Der Arzt hatte ihn gebeten, alles Böse und alles Freudige vor ihr fernzuhalten. Aber er konnte doch nicht lügen, wenn die Mutter ihn fragte. Er konnte doch nicht in diese angstvoll auf ihn gerichteten Augen hineinlügen.
«Ihr müßt Eure Medizin einnehmen, Mama. Eure Hand ist so heiß.»
«Schläft Paolo bei dir?»
«Nein, Mama», sagte er leise, «ich habe ihn heute fortgeschickt.»
«Ich kann den linken Arm nicht mehr bewegen. Es ist gerade so, als ob eine Nadel in mein Herz steche… Du verbirgst mir etwas, Marco… Sag, freust du dich, daß Giannina hier ist?»
«Ja, Mama. Aber sie gehört zu Giovanni. Sein Vater ist verunglückt, nun hat Giovanni keine Zeit zum Singen mehr…»
«Bring ihn zu mir, Marco. Ich möchte ihn noch einmal singen hören…» Alles ist so traurig, Mama, dachte Marco. Giannina hatte ihm vom Schicksal Zsusinkas, der Enkelin des alten Zigeuners, erzählt. Gab es denn nur Trauriges in der Welt? Die Welt war doch weit und schön; die Erde, das Wasser und der Himmel gehörten zu ihr. Irgendwo lebte Zsusinka. Wer sagt denn, daß sie unglücklich ist? Schade, daß er mit der Mutter nicht darüber reden konnte.
«Ich gehe ein wenig auf und ab, Mama. Paolo wird bald zurückkommen. Ich bleibe solange bei Euch. Wenn Ihr wollt, kann ich bei Euch schlafen, hier auf dem Teppich, das macht mir nichts aus. Ich will nur bei Euch sein, wenn Ihr mich braucht.»
«Setz dich, mein Sohn, dein Wesen ist voller Unruhe wie bei deinem Vater… Aber du brauchst um mich keine Sorge zu haben, das geht schon vorbei… Es ist doch hell im Zimmer. Die Kerzen sind wie Sterne. Sie leuchten überall. Setz dich, mein Sohn, ich kann dich nicht mehr sehen…»
«Was habt Ihr denn, Mama?» Marco beugte sich über das Gesicht der Mutter. Es war wachsbleich, ihre linke Hand lag steif ausgestreckt auf der blauseidenen Decke. Die Augen waren unnatürlich groß und gaben das Licht wie ein toter Spiegel wieder.
Marco lief zur Tür. «Giannina», rief er. «Giannina! Was ist denn nur mit Mama… Wir müssen ihr helfen.»
Giannina kam mit einer Waschschüssel und einem Tuch. «Müssen wir den Priester holen, Giannina?» fragte Marco angsterfüllt.
«Es wird schon vorübergehen… Mach die Fenster auf!» Sie legte der Kranken das feuchte, kalte Tuch auf die Stirn. Der Atem ging regelmäßiger, und die Augen schlossen sich. Es schien fast, als erschiene ein Lächeln auf ihrem Gesicht.
Die Luft strömte in das Zimmer. Es war die Luft von Venedig, die heimatliche Luft mit ihrem Geruch nach Schlamm, Fischen, Meer, Holz, Hanf, Himmel und Sonne, nach Weihrauch, Myrrhe und heiligem Kerzenschimmer.
Dunkel floß der schmale Kanal vorüber, zwei Barken glitten dicht aneinander vorbei.
Die Nacht war von leiser, dunkler Musik erfüllt.
Signora Polo schlug die Augen auf. «Da seid ihr ja», sagte sie. «Wo bin ich nur gewesen? Und die Fenster sind weit offen. Ich atme, mein Herz ist ganz ruhig. Danke, Giannina.»
«Jetzt kann ich gehen», sagte das Mädchen zu Marco. «Wenn du mich brauchst, rufe nur leise. Ich komme dann schon.»
Marco setzte sich wieder neben das Bett. «Ihr dürft jetzt kein Wort mehr sagen, Mama», sagte er. «Ich bleibe bei Euch, bis alles wieder gut ist.»
«Das Sprechen macht mir keine Beschwerden, Marco. Es ist so hell in mir… Sie sagen, Venedig sei die Königin des Meeres. Glaube ihnen nicht, die Sklavin des Meeres ist sie… Gestern war dein Onkel Pietro Bocco bei mir. Er ist ein guter Mann. Ween irgend etwas geschieht, kannst du dich ihm anvertrauen…»
«Aber was soll denn geschehen? Pietro Bocco gefällt mir nicht, Mama, er ist freundlich, aber seine Augen blicken so kalt. Wir brauchen ihn doch nicht. Ich bleibe bei Euch, solange Ihr wollt. Nie gehe ich von Euch fort. Und dann sind meine Freunde noch da: Giannina, Giovanni — und Paolo. Paolo sorgt sich um mich wie ein Bruder. Ich habe ihn gern… Mama, glaubt Ihr denn nicht, daß mein Vater wiederkehrt?»
«Ich weiß nicht…» Sie sprach so leise, daß Marco sein Ohr an ihre Lippen neigen mußte. «Scheint die Sonne draußen? — Ich möchte — jetzt — viele — Menschen — sehen. Nicht mehr einsam sein! Nicolo!»
Lagune und Himmel waren von gleicher Färbung. Der Regen verwischte die Begrenzungen. Die Kuppeln der Kirche San Marco mit den durch goldene Kugeln verzierten Kreuzen schwebten wie fünf heidnische Tempel über den Häusern. Die Straßen und Plätze waren fast menschenleer. Bettler und Obdachlose suchten Schutz in den Säulengängen der Piazza, wurden aber von den Sbirren immer wieder mit Schlägen vertrieben und verkrochen sich irgendwo unter alten Holzschuppen, Brückenbögen, Hauseingängen oder umgestülpten Fischerkähnen.
Nur spärliche Lichter erhellten die Nacht.
Auf den Kanälen war der Verkehr lebhafter. Barken glitten über das schweigende Wasser. Damen und Herren ließen sich in Klubs und Kasinos fahren, wo sie die Nächte beim Glücksspiel und in angenehmer Unterhaltung verbrachten.
Paolo saß zu dieser Stunde in der Taverne hinter dem Gemüsemarkt. Er war seit Wochen hier ständiger Gast und hatte sich mit dem Wirt bereits angefreundet.