Vor einigen Tagen war ein Mann erschienen, dessen linkes Auge durch eine schwarze Binde verdeckt war. Der Wirt nannte ihn vertraulich beim Vornamen. Giorgio hieß er. Meistens saß er allein in einer Ecke und trank ein Glas Wein nach dem anderen, ohne jedoch betrunken zu werden. Paolo glaubte in ihm den Mann zu erkennen, der Marco überfallen hatte. Er hatte mehrmals versucht, mit ihm in ein Gespräch zu kommen, hatte aber auf seine harmlosen Fragen nur mürrische, nichtssagende Antworten erhalten, die einer Unterhaltung keine Nahrung boten.
Der Wirt hielt sehr viel von ihm. «Der schwarze Giorgio ist ein schweigsamer Geselle», erklärte er Paolo, «den kannst du totschlagen, ehe er ein Wort verrät.»
Die Gleichgültigkeit, mit der Giorgio ihn betrachtete, zeigte Paolo, daß dieser ihn nicht erkannt hatte.
Der Wirt hatte heute alle Hände voll zu tun. Das Regenwetter zog auch Handwerker und Händler in die Taverne, die sonst ihre Waren auf den öffentlichen Plätzen feilboten. So befand sich eine gemischte Gesellschaft in dem Kellergewölbe, das von Weindunst, derben Scherzen und wütenden oder freudigen Ausrufen der Spieler erfüllt war.
An Paolos Tisch saßen ein Rudermacher, ein Terrazzoschläger, ein Hühnerverkäufer und ein Küchleinbäcker. Die Händler schimpften auf den Regen, weil er ihnen das Geschäft verdarb; die beiden Handwerker sahen ihre Zechbrüder spöttisch an und meinten, daß sie gern mit ihnen tauschen würden. Der Handel bringe doch so viel ein, daß ihnen das bißchen Regen gar nichts ausmachen dürfe. Der Hühnerverkäufer erging sich in langes und breites Lamentieren über die hohen Abgaben, die die Regierung verlange, und erklärte, daß viele Händler kaum das Salz für ihre Speisen verdienten.
«Eine schlechte Zeit, eine schlechte Zeit. Stimmt's, Bruder», wandte er sich an den Küchleinbäcker. Dieser nickte mit sorgenvollem Gesicht. Dem äußeren Anschein nach aber konnte es den beiden nicht allzu schlecht gehen. Besonders der faßdicke Hühnerverkäufer strahlte unverkennbar Wohlhabenheit und Zufriedenheit aus, so gern er es auch verborgen hätte.
Der Terrazzoschläger hatte Mitleid mit den beiden Händlern. «Wirt, bringt zwei Wein ohne Wasser für unsere armen Freunde hier, sonst verdursten sie noch!»
Die beiden wehrten zuerst entrüstet ab, als aber der rote funkelnde Wein vor ihnen stand, ließen sie sich nicht lange nötigen. Bald packte der wohlgenährte Hühnerverkäufer ein großes Paket aus und gab jedem ein Hühnchen. «Gern teile ich mein Abendbrot mit euch, Brüder», sagte er mit weinseliger Stimme.
Paolo, der sich wenig an der Unterhaltung beteiligt hatte, erhielt ebenfalls ein knuspriges Hühnchen.
Die Tische waren dicht besetzt. Der Wirt und eine Magd liefen geschäftig zwischen Fässern, Bänken und Tischen hin und her; roter, gelber und weißer Wein floß aus den hölzernen Zapfen in die Karaffen. Die Öllampe spendete mattes Licht und milderte das lebhafte Mienenspiel in den Gesichtern.
Paolo wurde plötzlich aufmerksam. Knarrend bewegte sich die schwere Tür in den Angeln. Der schwarze Giorgio, das Gesicht immer noch durch die Binde entstellt, trat ein, überflog mit einem schnellen Blick die Taverne und stieg die Steinstufen hinunter. Er begrüßte flüchtig den Wirt und setzte sich auf einen einzelnen Stuhl neben dem großen Faß.
Paolo war jetzt ganz sicher, daß Giorgio es gewesen war, der den jungen Herrn überfallen hatte. Er erinnerte sich an die geschmeidigen, katzenartigen Bewegungen, an die buschigen braunen Augenbrauen und den Haaransatz, der nur wenige Zentimeter Stirn freigab.
«A la vostre salute!» schrie der Hühnerverkäufer, der immer mehr in Stimmung kam, und hob das Glas. «Wenn ich den Hühnchen den Hals umdrehe, tut's mir ja in der Seele weh», erzählte er. «Aber was soll ich machen, Brüder? Ich muß doch leben. Einmal brachte mir der Diener einer vornehmen Familie zweihundert Nachtigallen. Ein gutes Geschäft war das. Flink bin ich wie eine Eidechse. Man sieht's mir nicht an. Eins — zwei — drei habe ich ihnen die Köpfe abgerissen und wie ein gelehrter Doktor die Zungen herausgetrennt. Zur Hochzeit der schönen Isabella gab es Nachtigallenzungen. Ein Leckerbissen, eines Kaisers würdig… A la vostre salute, Brüder!»
Paolo spürte, wie der Wein in sein Blut floß und die Gedanken schneller arbeiten ließ. Wie flüchtig vorbeihuschende Schatten tauchten Erinnerungen und Träume auf. Er hörte nicht mehr auf das Gespräch am Tisch, murmelte eine Entschuldigung und stand auf, um zum schwarzen Giorgio zu gehen. Er wußte selbst noch nicht, was er eigentlich sagen wollte. Vielleicht würde er ihn einfach an dem Kragen packen und das höhnische Gesicht hin- und herschütteln; bis sich der verschlossene Mund öffnete.
Es war ein Glück für Paolo, daß in diesem Moment ein schwarz gekleideter Mann mit unbewegtem, weißem Gesicht und glatt zurückgekämmten Haaren durch die Taverne schritt; er steuerte auf den Wirt zu, begrüßte ihn herablassend und nahm neben dem schwarzen Giorgio Platz. Der ehrenwerte Schreiber vom Arsenal, Luigi Farino, war gekommen.
Nichts in seinen Mienen verriet die Aufregung und die Wut, die ihm seit dem mißglückten Anschlag auf Marco keine Ruhe mehr ließen. Sein Herr, Messer Pietro Bocco, hatte kein Wort mehr mit ihm gesprochen, sondern ihn nur unheildrohend angesehen. Luigi wußte, daß die edlen Herren gefährliche Mitwisser ihrer Pläne durch eine Handbewegung beseitigen ließen. Obwohl er von Natur nicht ängstlich war, wurde er ein unangenehmes Gefühl nicht los.
Stärker als diese dunkle Furcht aber war seine Geldgier. Er war heute gekommen, um dem schwarzen Giorgio mindestens drei Dukaten von den fünf, die dieser erhalten hatte, abzujagen oder zu verlangen, daß er endlich seinen Auftrag ausführe. Der schwarze Giorgio aber hatte eine abergläubische Scheu davor, eine Sache, die einmal mißglückt war, zum zweiten Mal anzufassen. Im übrigen hatte er seinen Lohn schon eingesteckt und zum größten Teil in der Taverne gelassen, so daß er beim besten Willen nichts wieder herausgeben konnte. Der Schreiber fiel ihm auf die Nerven.
Ein Weinchen gefällig, Herr?» fragte der Wirt. Luigi nickte. «Wie steht es, Giorgio?» fragte der Schreiber und gab seiner Stimme einen drohenden Klang.
Ihr sollt mich in Frieden lassen», antwortete der schwarze Giorgio gereizt.
Dann gib mir das Geld zurück, fünf Dukaten hast du erhalten, du Tölpel!»
«Halt's Maul, Fischgesicht», knurrte Giorgio wütend. «Komm mit mir, draußen kriegst du Dukaten, soviel du brauchst.» Er warf dem Wirt, der eilig gekommen war, einige Soldi zu und stand auf. Dann beugte er sich zum Schreiber und sagte: «Wenn du mich noch mal belästigst, Schreiber, wird man dich bald aus dem Kanal fischen können.»
Der schwarze Giorgio ging hinaus, ohne sich umzusehen.
«Noch ein Weinchen gefällig, Herr?» fragte der Wirt.
«Der Teufel soll ihn holen», sagte Luigi. «Bringt mir Wein, Wirt.»
«Er ist ein ungehobelter Klotz», flüsterte der Wirt. «Am besten ist's, Ihr laßt die Finger von ihm.»
Paolo hatte die Szene voller Spannung beobachtet. Er sah den Schreiber vom Arsenal zum erstenmal in der Taverne und ahnte, daß dieser mit dem Mordanschlag etwas zu tun hatte. Auf jeden Fall würde es gut sein, sich mit ihm bekannt zu machen. So ging er, etwas schwankend, auf ihn zu und ließ sich neben ihm auf den Stuhl fallen.
«Ihr seid so einsam, Herr», sagte er und sah ihn mit lustigen Augen an. «Gestattet, daß ich mich ein wenig zu Euch setze.»
«Wer seid Ihr?» fragte Luigi kalt.
«Ein Lastträger, Herr. Hab diese Woche gut verdient. Kann das Geschwätz von dem Hühnerverkäufer nicht mehr vertragen. Schlagt's mir nicht ab, ein Weinchen zusammen zu trinken. Bringt uns zwei Wein, Wirt!»
Der Schreiber war nicht abgeneigt, das treuherzig-harmlose Wesen des muskulösen Lastträgers flößte ihm Vertrauen ein.
Paolo, der von seinem Herrn für die Nachforschungen gut versorgt worden war, ließ das Geld in seiner Tasche klimpern und bestellte, kaum waren die Gläser geleert, schon die nächsten. Dabei horchte er auf jedes Wort des Schreibers. Er erfuhr zunächst nicht allzuviel; Luigi verstand es, seine Gedanken zusammenzunehmen. Paolo erfuhr nur, daß der Zechbruder Schreiber im Arsenal war und in den Diensten des Pietro Bocco stand. Das machte ihn allerdings sehr hellhörig und verstärkte seine Ahnung, daß der Schreiber seine Hand im Spiel hatte.