«Trinkt, Schreiber», rief er mit dröhnender Stimme. «Das Blut ist zu dick. Gießt einen Schluck Wein hinein, und es wird lebendig wie die kleinen Fischlein im Wasser. Heute kommt's mir nicht drauf an, bringt Wein, Wirt!»
Luigi lächelte nur mit dem Mund. Wangen, Nase und Augen blieben unbewegt wie starrer Stein. Der Wein vermochte nicht, die Maske, die zu Luigis zweiter Natur geworden war, zu beleben. Aber er tropfte in seine Gedanken und löste die Zunge zu spärlichen Bemerkungen.
Der gute Piccolit aus den Weingärten Friauls wirkte auch auf Paolo. Er dankte im stillen dem Hühnerverkäufer für das gespendete Abendbrot. Mit einem Hühnchen im Magen konnte man den Lockungen und Verwirrungen des Weins besser widerstehen.
«Ihr seid ein kräftiger Geselle, Lastträger, könntet Euch leicht Geld nebenbei verdienen», sagte Luigi mit schwerer Zunge.
«Warum nicht, Schreiber? Für Geld hole ich Euch den Mond herunter!»
«Den Mond, den Mond!» äffte er Paolo nach. «Dafür kriegst du keinen roten Heller.»
«Grinse nicht, Bruder», sagte Paolo und legte Daumen und Zeigefinger wie eine geöffnete Zange um den weißen Hals. «Wenn ich zudrücke, sagst du keinen Pieps mehr, wie ein Vögelchen zerquetsche ich dich.»
«Mag sein!» erwiderte Luigi unberührt. «So gefällst mir schon besser, Lastträger. Aber deine Augen sind mir zu ehrlich für solche Geschäfte… Könntest dir leicht ein paar Dukaten verdienen… Meinen Hals laß in Ruhe, dafür gibt dir keiner was. Wanderst höchstens ins Gefängnis oder kommst auf die Galeere. Kannst dann rudern dein Leben lang. Ich muß jetzt gehen. Aus mir kriegst du nichts heraus, Lastträger… Deine Augen gefallen mir nicht…»
«Bringt Wein, Wirt!» schrie Paolo.
Die Magd beschnitt den Lampendocht. Es wurde dunkel und wieder hell. Der Geruch des verbrannten, ölgetränkten Dochtes mischte sich mit Weindunst und, Menschenschweiß. Gelbes Licht fiel auf Bänke und Tische, auf weißen und roten Wein, auf blonde und schwarze Haare, über verwegene Gesichter. Schmierige Karten flogen auf den Tisch, über Würfel mit schwarzen Punkten klangen in Lederbechern gegeneinander und rollten, von gierigen Augen verfolgt, auf den Tisch. Zwei Schiffer sangen ein trauriges Lied vom Meer. Keiner hörte zu. Es wurde gesprochen, gestikuliert, gelacht und mit den Fäusten auf die Tische geschlagen.
Luigi saß mit gläsernen Augen fremd auf dem Stuhl.
Paolo hatte die Gewalt über seine Gedanken verloren. «Kennt Ihr Marco, den Sohn des Nicolo Polo?» fragte er und konnte die Wut in seinen Augen nicht mehr verbergen.
Die Worte weckten die eingeschläferten Sinne des Schreibers. «Seid wohl ein Spitzel des Messer Bocco, Lastträger», lallte er. «Geht weg!» schrie er dann plötzlich. Irre Angst saß in seinen Augen. «Weg von mir!» Er stützte den Arm auf die Stuhllehne, stand schwer auf und ging mit unsicheren Schritten zur Tür. Der Wirt sprang eilig herbei und öffnete sie. Feuchte Luft drang ein.
Paolo zahlte die Zeche und lief dem Schreiber nach. «Wo seid Ihr?» rief er in die Nacht hinein. «He, schwarzer Totengräber, wartet doch. Ich bin's, Euer Freund, der Lastträger!»
Er taumelte in der frischen Luft und wußte kaum, wohin er lief. Die Gasse mündete in einen kleinen Kanal. An der Hauswand lehnte bewegungslos der Schreiber. Paolo sah das weiße Gesicht. «Hab ich dich endlich!»
«Von mir erfahrt Ihr nichts!» sagte der Schreiber mit trunkener Stimme.
Paolo packte ihn an den Armen und preßte sie zusammen. «Was habt Ihr mit Marco Polo vor? Wer hat Euch den Auftrag gegeben, ihn zu ermorden?»
Der Regen hüllte sie ein. Die Straße war schlüpfrig wie Sumpfboden. Verloren floß der Kanal vorbei, irgendwo brannte ein Licht. Der Schreiber winselte vor Schmerz. «Von mir erfahrt Ihr nichts!» beharrte er.
Da umfaßte Paolo die sehnige, sich vergeblich wehrende Gestalt, hob sie vom Boden hoch, trug sie zum Ufer und warf sie mit einem Schwung ins Wasser.
Es klatschte, als sei ein großer Stein hineingefallen. Der Hut trieb auf den Wellen, kaum zu erkennen in der Dunkelheit.
«Hilfe!» schrie der Schreiber. Das Haar hing in Strähnen in seinem Gesicht. «Laßt mich in Ruh, Lastträger… Zu Hilfe!»
Regen und dumpfe Enge verschluckten die Schreie.
Der Schreiber arbeitete sich an das Ufer heran. Er hatte schon Grund und konnte die Pfähle fassen. Wie eine große Ratte kroch er die Böschung hoch.
Paolo stand breitbeinig am Ufer. «Wagt es nicht mehr, etwas gegen den Jungen zu unternehmen», sagte er mit kalter Wut. «Das nächste Mal schlage ich Euch tot.»
Er drehte sich um und ging davon. Die Luft und das Erlebnis hatten ihn wieder nüchtern gemacht. «Nehmt Euch vor Messer Pietro Bocco in acht, junger Herr», sagte er leise vor sich hin. «Keine Sorge, Signora Polo, ich werde schon aufpassen.»
In dieser dunklen, regnerischen Nacht aber, als die Herbstblumen in den Gärten Venedigs zaghaft ihre Blüten öffneten, als sich die Blätter an den Bäumen zu färben begannen, als die ewigen Wellen des Meeres gegen den schützenden Damm schlugen, in dieser Nacht ohne Sterne und Mondenschein, hatte Signora Polo Abschied von der Welt genommen.
Der getreue Paolo konnte ihr nichts mehr sagen. Sie ruhte still unter der seidenen Decke, die Augen waren geschlossen. Neben ihrer leblosen Hand lag der kleine, aus Elfenbein geschnitzte Elefant, das letzte Geschenk von Nicolo, ihrem Gatten. Ihr Gesicht ruhte aus vom Schmerz des einsamen Lebens.
Die Kerzen brannten, der Priester kniete vor dem Bett und murmelte das letzte Gebet für die stille Frau.
Das Warten mit all seiner Hoffnung und all seinem Leid war nun vorbei für sie, vorbei war auch die kranke Furcht um den Sohn, das Zittern um jeden Schritt, um jeden Gedanken in ihm, der der Sehnsucht nach dem Meer und der Ferne gehörte.
Der Priester entfernte sich lautlos.
Marco dachte einfache Worte: Die Mutter ist tot. Ich muß ein wenig die Fenster öffnen, damit frische Luft um ihr Gesicht wehen kann. Aber sie spürt das ja nicht mehr. Sie schweigt. Sie wird kein Wort mehr zu mir sagen.
Marco war allein in dem Zimmer. «Oder schläfst du nur, Mama?» Vielleicht schläft sie nur?
Er beugte sich über ihr Gesicht. Da sah er, daß der Tod es gezeichnet hatte.
Das Licht schien auf das Bett, auf dem bleichen Gesicht lag ein unsichtbarer Schatten.
Und da dachte Marco, daß er keinen Menschen mehr auf der Welt hatte, daß alles um ihn gestorben war.
Und da weinte er.
Der Tod eines geliebten Menschen bedeutet viel im Leben der Zurückbleibenden. In der Taverne aber, wo trübe die Lampe brannte und der Wein aus den Fässern floß, wo zwei Schiffer Lieder sangen, wo die Augen beim Würfelspiel glühten vor Leidenschaft, in der Taverne, wo große und kleine Gedanken in den Köpfen der Zecher lebten und starben und neugeboren wurden, spürte niemand die Schwingen des Todes, die das Haus in San Giovanni Chrisostomo gestreift hatten. Die Lederbecher wurden hart auf den Tisch gestülpt, die Würfel rollten über die weingetränkten Adern des rohen Holztisches. Und das Glück der Welt und das Unglück der Welt lag für manchen in der Anzahl der schwarzen Punkte auf den weißen Würfeln.
Das Meer rauschte mit unverminderter Kraft gegen den aus Balken, Gestrüpp und Sand gebauten Damm auf dem Lido, die Nachtwachen beobachteten die anstürmenden Wellen und hüllten sich fester in ihre Mäntel.
Der Senat war zu einer geheimen Nachtsitzung zusammengekommen. Zwei Knaben zogen goldene Bälle aus einem Behälter. In ihren Händen ruhten Entscheidungen über Dukaten, Schiffe, Staatsämter; Entscheidungen, ob dieser oder jener Herr in den Senat gewählt würde.