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Der Tod eines geliebten Menschen bedeutet wenig im Treiben der Welt. Ein Stäubchen wird in die Unendlichkeit geweht.

Der Regen netzte Blumen, Häuser, Schiffsplanken, Kirchenkuppeln, Strohdächer, Marmorsäulen und Holzschuppen.

In dieser dunklen, regenschweren Nacht begann ein neuer Abschnitt im Leben Marco Polos.

Paolo war der erste, der ins Zimmer trat. Seine Kleider rochen nach Wein und Feuchtigkeit.

«Darf ich ein wenig bei Euch bleiben, Herr?» Er wagte nur einen flüchtigen Blick auf die Tote zu werfen.

Marco nickte schweigend.

«Euer Vater hat mich aus dem Waisenhaus geholt. Da wart Ihr noch nicht auf der Welt, Herr.» Schwer formten Paolos Lippen die Worte. «Ich habe Vater und Mutter nicht gekannt. So ist das, Herr. Wenn Ihr mich nicht fortschickt, bleibe ich immer bei Euch… Die Signora hat nun keine Schmerzen mehr.» Er kniete vor dem Bett nieder und senkte den Kopf.

«Danke, Paolo», sagte Marco.

Giannina überwand ihre Angst und kam in das Zimmer, weil sie glaubte, daß Marco jetzt nicht allein sein dürfe. Sie versuchte die Tränen zurückzuhalten, strich mit der Hand über den Tisch und streifte Marco, der neben dem Bett saß, mit einem scheuen Blick.

«Giannina!»

«Ja?»

«Sie wollte Giovanni noch einmal singen hören. Aber jetzt hört sie nichts mehr. Ob der Vater spürt, daß sie gestorben ist?»

Marcos Gedanken entfernten sich aus dem Sterbezimmer. Er dachte an den Vater, als wisse er bestimmt, daß er noch am Leben sei. Die Mutter hatte so viel von ihm erzählt, daß er glaubte, ihn genau zu kennen — die strengen Augen, die große, aufrechte Gestalt und — in seltenen Augenblicken — das frohe Auflachen und die schnelle Erwiderung auf eine unverhoffte Frage.

Morgen gehe ich zu Giovanni», sagte Giannina. «Es wird nun alles anders werden», erwiderte Marco gedankenvoll.

BRUDER LORENZO

DER TOD DER MUTTER HATTE EINE TIEFE SPUR IN Marcos Seele hinterlassen. Manchmal glaubte er noch, ihre leisen Schritte in dem stillen Haus zu hören; und der Schmerz verdunkelte seine Augen. Aber bald spürte er, daß es eine Kraft im Menschenleben gibt, die alle Wunden heilt.

Der Herbstwind wehte über Meer und Lagune. Die Sonnenblumen in Venedigs Gärten welkten; taumelnd fielen gelbe und braune Blätter in die Kanäle und schaukelten auf den Wellen.

Marco achtete nicht auf das Heulen des Windes. Er saß in seiner Stube über eine Handschrift gebeugt, die ihm sein Lehrer, der Bruder Lorenzo, gegeben hatte. Sie berichtete, wie der blinde Doge Enrico Dandolo, ein hochgewachsener, weißhaariger Greis von 93 Jahren, an der Spitze eines Kreuzritterheeres Byzanz, die von mächtigen Mauern geschützte Hauptstadt des Oströmischen Kaiserreiches, erobert hatte.

Noch lebten Männer in Venedig, die an diesem Kriegszug, der unermeßliche Beute und viele Handelsvorteile für die venezianischen Kaufleute brachte, teilgenommen hatten. Einer von ihnen war Bruder Lorenzo. Er war damals, im Jahre 1204, achtzehn Jahre alt gewesen und gehörte zu den ersten Angreifern, die von den hohen venezianischen Schiffen mit Hilfe von Holzbrücken auf die Festungsmauern gestiegen waren und die griechischen Verteidiger nach hartem, erbarmungslosem Kampf zurückgetrieben hatten. Allen voran, die Soldaten durch seinen Mut anfeuernd, war Enrico Dandolo, mit dem weißen Kreuz auf dem prächtigen Purpurmantel, in die Stadt eingedrungen.

Marco las die Handschrift, die ein Mönch in der Einsamkeit seiner Zelle geschrieben hatte, mit atemloser Spannung. Er empfand eine sonderbare Genugtuung, als er die Berichte über die Eroberung von Byzanz studierte. Seine Phantasie wurde durch die Schilderung des Kampfes so angeregt, daß er während des Lesens plötzlich aufsprang, zu einem eingebildeten Schwert griff und mit geschlossenen Augen auf die feindlichen Soldaten eindrang, wie es der greise Doge getan hatte. Unversehen hatte sich die Stube in einen Kampfplatz verwandelt. Marco legte den linken Unterarm auf den Rücken und streckte mit einem furchtbaren seiner Rechten den Gegner nieder.

Draußen vertrieb der Wind das graue Gewölk und öffnete einen Spalt durch den die Sonnenstrahlen, zaghaft erst, dann immer stärker und heller, Wasser, Steine, Äcker und Gärten mit goldenem Licht übergossen.

Doch Marco sah nicht, daß die Sonne schien. Er war der blinde Doge Enrico Dandolo, ein Riese an Energie und kämpfte, mit dem Rücken an die Mauer der Festung gelehnt, die Soldaten durch wilde Zurufe an feuernd, gegen die Übermacht des Feindes.

Das Kampfgetümmel wurde stärker. «Avanti amigi!» schrie Marco und stürmte mit erhobenem Schwert vorwärts.

Die Fensterläden klapperten; Marco rannte mit dem Knie gegen einen schweren Eichenstuhl. Er spürte keinen Schmerz, wurde aber durch das polternde Geräusch aus seiner vorgestellten Welt in die Wirklichkeit zurückgebracht. Erschöpft hielt er inne, ließ das unsichtbare Schwert sinken und öffnete die Augen.

Marco sah sich nach allen Seiten um, ängstlich, daß jemand seine gewaltigen Kriegstaten bemerkt haben könnte. Er war allein im Zimmer. Vor ihm lag der umgestürzte Eichenstuhl. Ein breiter Sonnenstreifen zeichnete sich auf dem Teppich ab. Im welkenden Laub des Kastanienbaumes, der einsam auf dem viereckigen Hof stand, rauschte der Wind.

Byzanz lag weit, Byzanz mit seinen Palästen und Kirchen aus weißem Marmor, mit den vergoldeten Kuppeln griechischer Tempel, die sich im Blau des sonnenbeschienenen Marmarameeres spiegelten.

Auf dem Tisch lag die Handschrift, jeder Buchstabe mit Liebe und weiser Geduld geschrieben, zu Worten und Sätzen sich fügend, die eine wunderbare Kraft ausströmten, eine Kraft, die in Marco wirkte und ihn gezwungen hatte, zum Schwert zu greifen und mit der Kniescheibe einen schweren Eichenstuhl umzustoßen.

Marco lächelte, als er den Schmerz jetzt spürte.

Byzanz war so nah, daß man es mit den Händen greifen konnte. Er brauchte nur die Augen zu schließen, um die Bilder lebendig werden zu lassen.

Marco stellte den Eichenstuhl wieder auf die Füße und ging zum Fenster. Der gewohnte Anblick des gepflasterten Hofes mit dem Kastanienbaum und dem gegenüberliegenden Haus vermittelte ein Gefühl der Ruhe und Geborgenheit, auch wenn der Herbstwind sich stürmisch gebärdete und die jagenden Meereswogen der Adria ahnen ließ.

Marco hatte erst nach dem Tode seiner Mutter begonnen, sich tiefer mit den Wissenschaften zu befassen. Früher hatte er den Unterricht nicht recht ernst genommen. Lieber war er mit Giovanni und Giannina durch die Insel Murano gestreift, hatte im Schilf verborgen auf den Brettern des alten Fischerkahns gesessen und mit den Freunden romantischen Träumen nachgehangen. Das Lernen war ihm nicht schwergefallen, schnell hatte er sich die Regeln der Grammatik und die Grundgesetze der Mathematik eingeprägt, ohne Stocken konnte er Stellen aus der Heiligen Schrift oder die verlangten Psalter hersagen.

Jetzt aber war es, als hätte eine starke Hand ihn ins Leben gestoßen: da, schau! Alles, was du siehst, ist lebendig. Die Kirchen, Paläste und Denkmäler sind keine toten Gegenstände, sie haben ihre Geschichte und sind ein Teil der Geschichte Venedigs; aber auch die Fischerdörfer, die Werkstätten der Handwerker, die Glashütten auf Rialto und Murano, die Kriegs- und Handelsschiffe, die Stapelplätze an den fernen Küsten gehören zur Geschichte Venedigs. Das Meer gehört dazu, die Kanäle gehören dazu und die ungezählten Arbeitshände, die Dämme bauen, Flüssen neue Betten graben und Eichenpfosten in den schlammigen Grund rammen, damit neue Häuser, neue Paläste, neue Kirchen entstehen können…

Bruder Lorenzo war über das steigende Interesse seines Zöglings an den Wissenschaften sehr erfreut und schätzte seine Beobachtungsgabe. Auch Pietro Bocco, der nach dem Tode der Mutter als Vermögensverwalter und Vormund eingesetzt worden war, sah es gern, wenn sich Marco in seine Stube vergrub und lernte. «Wirst mal ein studierter Mann werden», hatte er mit wohlwollendem Lächeln zu seinem Neffen gesagt. «Venedig braucht solche klugen Köpfe.» Während Marco zum Fenster hinaussah, erinnerte er sich an die Warnung des getreuen Paolo: «Nehmt Euch vor Messer Pietro Bocco in acht, Herr. Ich kann Euch nichts Genaueres sagen, aber ich fühle, daß Ihr auf der Hut sein müßt.»