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Viele Gedanken wohnten in Marcos Kopf und hielten ihn in ständiger Unruhe. Diese Unruhe hatte nichts Quälendes, sie half ihm, das zurückliegende Schwere zu vergessen und dem Gegenwärtigen und Kommenden nachzuspüren.

Die Tür wurde geöffnet; Paolo trat ein.

«Es ist Zeit, Herr, zum Bruder Lorenzo zu gehen. Ich sollte Euch erinnern, daß Ihr die Handschrift mitnehmt.»

Marco trat vom Fenster zurück und machte sich zum Ausgehen fertig.

«Wir müßten bald wieder nach Murano fahren», sagte er aus seinen Gedanken heraus.

«Messer Pietro Bocco sieht es nicht gern», erwiderte Paolo mit einem schnellen Blick auf seinen Herrn.

Marcos Gesicht rötete sich vor Zorn, die Schläfenadern zuckten im Takt des schnellen Herzschlages.

«Ich mache, was ich will!»

Uber Paolos Gesicht ging ein zufriedenes Leuchten.

«Vielleicht verbietet er mir noch, das Grab der Mutter auf San Michele zu besuchen», sagte Marco, noch immer zornig.

«Ich muß Euch etwas sagen, Herr.» Paolo schaute sich um, als befürchte er einen Lauscher. Marco sah ihn fragend an und hielt in seinen Bewegungen inne, als er den ungewöhnlichen Ernst im Gesicht des Dieners sah.

«Was gibt es denn, Paolo?»

«Heute morgen hat man die Leiche des Schreibers Luigi Farino aus dem Kanal gefischt. Mit einem Dolch im Rücken.»

Marco trat dicht an Paolo heran und faßte ihn an den Schultern: «Ist das der Schreiber, von dem du mir erzählt hast?» Er schüttelte Paolo. «Hast du es getan, Paolo? Sag schnell, hast du es meinetwegen getan?» Marcos Blicke ruhten in Ernst und Sorge auf dem großen, guten Gesicht des Dieners.

«Ein anderer hat ihn aus dem Wege geräumt. Vielleicht wußte er zuviel. Die Herren zögern nicht, wenn es gilt, einen unbequemen Mitwisser zu beseitigen.»

«Gott sei Dank, Paolo… Ich hatte Angst um dich.»

«Ich passe schon auf», murmelte der Diener, «Tag und Nacht passe ich auf.» Und laut sagte er: «Ich begleite Euch zum Bruder Lorenzo, Herr!»

Sie verließen das Haus zu Fuß. Der Wind hatte die Straßen getrocknet, so daß man gut gehen konnte. Marco trug die Handschrift in seiner Tasche und achtete darauf, daß sie nicht beschädigt wurde.

Vor einem kleinen Haus, in der Nähe der vor vier Jahren erbauten Ponte della moneta, die über den Canal Grande zum Alten Rialto führte, verabschiedete er sich von Paolo.

Bruder Lorenzo saß auf dem lederbezogenen Stuhl; vor ihm, auf dem Pult, lag ein aufgeschlagenes Buch. Ein kleiner weißer Pudel sprang freudig bellend an Marco empor.

«Schweig, Tiberius!» sagte der Alte mit lustigem Augenblinzeln. Aber Tiberius merkte, daß die Ermahnung nicht ernst gemeint war, und bellte noch lauter, bis Marco ein kleines Paket aus der Tasche zog und ihm die begehrten Knochen zuwarf.

In der Gelehrtenstube fiel alles von Marco ab, was ihn eben noch beschäftigt hatte.

«Du vergaßest den Gruß, den ich dich lehrte», sagte Bruder Lorenzo, «daran ist wohl Tiberius schuld?»

Marco wurde rot. «Friede diesem Hause!» sagte er. «Amen!» erwiderte Bruder Lorenzo. «Nun setz dich! — Und du, Tiberius, wirst uns nicht mehr stören!»

Tiberius zerbiß krachend einen Knochen.

«Er hat mit dem Kopf genickt, Bruder Lorenzo», wagte Marco einen Scherz.

Der Alte lächelte. Er war von mittlerer Gestalt und trotz seines Alters noch schlank. Mit seinem weißen Kopf- und Barthaar und der braunen Kutte ohne Kapuze sah er wie einer jener Apostel auf den Kirchengemälden aus. Nur sein Gesicht war nicht so kindlich gutmütig, sondern zeigte eher leidenschaftliche, listig-verschlagene Züge, die durch eine weise Abgeklärtheit gemildert wurden. Die Augen waren flink und klein und schienen bis auf den Grund der Seele sehen zu können.

Gestern hatte Bruder Lorenzo hohen Besuch empfangen. Messer Pietro Bocco war bei ihm gewesen und hatte sich nach den Fortschritten seines Neffen beim Studium der geistlichen Wissenschaft erkundigt. Er ließ durchblicken, daß er es gern sähe, wenn Marco sich unter Bruder Lorenzos Einfluß entschließen würde, Mönch zu werden. Als er sich mit freundlichem Nicken verabschiedete, legte er einen Beutel auf den Tisch, der, wie Bruder Lorenzo gleich darauf feststellte, 25 Zechinen enthielt.

Nun hieß es im 4. Kapitel der «Regel der Minderbrüder», daß kein Bruder, weder er selbst noch durch eine Mittelsperson, Geld irgendwelcher Art annehmen dürfe. Das brachte den Bruder Lorenzo, wie des öfteren, in arge Gewissenspein. Aber er sagte sich auch diesmal, daß er als Franziskanermönch auf seinen weiten Pilgerfahrten genügend Armut und Hunger kennengelernt habe und keine allzu große Sünde begehe, wenn er die 25 Zechinen einstecke, um den Abend seines Lebens durch ein Gläschen Wein und ein gebratenes Hühnchen zu verschönern. Der Messer Pietro Bocco verlangte ja nichts Schlechtes, im Gegenteil etwas Gottwohlgefälliges von ihm. Er sollte diesen klugen, aufgeweckten Knaben in den Schoß der Kirche führen.

Natürlich ahnte Bruder Lorenzo, daß der kühl rechnende Kaufmann nach dem Vermögen der Familie Polo trachtete. Er war sich noch nicht klar, auf wessen Seite er sich schlagen sollte; denn er spürte zu dem Knaben eine väterliche Zuneigung.

Marco, der von diesen Gedanken nichts ahnte, sah erwartungsvoll in die von zahllosen Fältchen umgebenen, erfahrenen Augen seines Lehrers.

«Du hast die Handschrift mitgebracht? Das ist gut. Wie hat sie dir gefallen, mein Sohn?»

«Bruder Lorenzo, erzähl mir von Enrico Dandolo. Ihr habt ihn doch mit eigenen Augen gesehen.»

Uber Marcos Gesicht flog ein Schein freudiger Erwartung. Der Pudel Tiberius kam gesättigt aus seiner Ecke und legte sich zu Füßen seines Herrn nieder; er schaute Marco an, als verstände er alles, was um ihn vorging.

Bruder Lorenzos weiße Augenbrauen zogen sich sinnend zusammen. Hinter dem Stuhl mit den bequemen Armlehnen standen Vasen mit bunter Malerei und kleine Bronzefiguren. Unter dem Muttergottesbild brannte ein Lämpchen. An der Wand, dem Alten gegenüber, hing ein Bild des heiligen Franz von Assisi, des Begründers des Franziskanerordens.

«Mir ist kalt, bring mir das Kohlebecken!» befahl der Alte. Marco holte das Becken und blies in die aus aufrecht stehenden schmiedeeisernen Eichenblättern gebildete Schale. Bruder Lorenzo hielt die Hände darüber und blickte in die glimmenden Holzkohlen. Die Wärme belebte seine Erinnerung.

«Du kommst zu einer guten Stunde, mein Sohn. Es gibt Augenblicke im Leben alter Menschen, da scheint die Gegenwart gestorben zu sein, und nur das Vergangene lebt.»

Ein warmer Glanz verjüngte seine Augen, als er zu erzählen begann: «Du willst von großen Kriegstaten hören, von der Eroberung Byzanz' oder von den Kämpfen gegen die Genuesen… Nicht davon will ich dir heute erzählen.

Etwas anderes ist in meinem Herzen lebendig; nicht minder interessant ist es, du wirst es bestätigen, wenn du es gehört hast.»

Der Alte bannte mit einem Blick den Unwillen, der sich in Marcos Miene andeutete.

«Sieh dich um», fuhr er fort, «da ist das Bild des Bruders Franz. Schau ihn dir an. Im Jahre 1221, heute vor 47 Jahren genau, habe ich den seligen Franz zum erstenmal gesehen. Es war auf dem Generalkapitel bei der heiligen Maria von Portiuncula. Wohl dreitausend Brüder saßen am Abhang des sanften Berges; der Wind hatte sich gelegt, und die Sonne schien wie an einem heißen Sommertag. Der heilige Franz war schon gebrechlich, so daß an seiner Statt Bruder Elias sprach…»