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«Ihr wart einer der dreitausend Brüder», unterbrach ihn Marco, «und habt den heiligen Franz gesehen? Sagt, Bruder Lorenzo, wie sah er aus? Hatte er einen Heiligenschein um den Kopf?»

«Es ist nur wenigen Sterblichen vergönnt, die Attribute der Heiligkeit auf Erden zu erblicken. Ein Mensch war er, mit länglichem, kindlich gütigem Gesicht, der den Kaufmannsberuf aufgegeben und sein gesamtes I lab und Gut der Kirche geweiht hatte… Ein einfacher, guter Mensch…»

Bruder Lorenzo machte eine Pause. Er sprach nicht, weil es im Sinne Messer Pietro Boccos lag, sondern war ganz der Erinnerung hingegeben und überhörte, wie Marco sagte: «Ein Kaufmann war er — und wurde ein Mönch?»

Bruder Lorenzo neigte sich vor. An seinem geistigen Auge zog das Bild vorüber: die herbstlichen Bäume, die stille Kirche mit dem Friedhof und die Kutten der Mönche, die wie braune, reglose Feldsteine dasaßen.

Er stützte den Kopf in die Hand und erzählte weiter: «Gegen Schluß des Kapitels zupfte Bruder Franz Elias an der Tunika. Dieser neigte sich zu ihm und vernahm, was Franz wollte. Dann richtete sich Elias auf und sprach: 'Brüder, also spricht der Bruder: Es gibt eine Gegend, Deutschland genannt. Dort leben Menschen, die sind Christen und fromm. Wie ihr wißt, kommen sie häufig mit ihren langen Stäben und weiten Stiefeln in unser Land; sie singen dabei das Lob Gottes und seiner Heiligen, wandern in Schweiß und Sonnenbrand dahin und besuchen die Schwellen der Heiligen. Und weil die Brüder, die man einigemal hingeschickt hat, bös zugerichtet zurückkamen, so zwingt der Bruder niemand, zu ihnen zu gehen. Wer aber aus Eifer zu Gott und den Seelen hinziehen will, dem gibt er einen ebenso bedeutenden Gehorsamsauftrag, ja noch einen größeren, als wenn er über das Meer reisen würde. Wer also hingehen will, erhebe sich und trete zur Seite…' Also sprach Elias im Auftrag des Bruder Franz…»

Der Alte hielt inne in seiner Schilderung. Marco hatte gespannt zugehört.

«Dann seid Ihr nach Deutschland gekommen?» fragte er.

«Wie ist es Euch ergangen? Dort soll es Berge geben, die bis in die Wolken reichen und ewig mit Schnee und Eis bedeckt sind. Ist es so, Bruder Lorenzo?»

Marco neigte sich begierig vor und starrte in das Gesicht seines Lehrers, als finde er dort die Antwort.

In Bruder Lorenzo, angeregt durch die Anteilnahme, wurden die Erlebnisse lebendig, als wären sie erst gestern geschehen.

«Hör zu, mein Sohn», sagte er, «ich will dir getreulich schildern, wie es gewesen ist. Mein Herz war unruhig zur damaligen Zeit, ich hatte keine Angst vor den drohenden Gefahren und war einer der ersten, die sich meldeten. Neunzig Brüder wurden ausgewählt. In Gruppen zu dritt oder viert zogen wir los. Zum Feste des heiligen Michael waren wir in Trient und wurden freundlich aufgenommen. Auch in Bozen und Brixen litten wir keine Not. Von Brixen aus reisten wir ins Bergland und kamen zu der Zeit des Mittagsmahls nach Sterzing. Die Leute hatten gerade kein Brot zur Hand. Wir waren der deutschen Sprache nicht mächtig und verstanden nicht zu betteln. Da ging es uns schlimm. Der Magen knurrte, als wir uns in einem Strohhaufen zur Nacht niederlegten. Mit zwei Bissen Brot und drei Rüben versuchten wir unseren Hunger zu stillen.

Am anderen Morgen erhoben wir uns hungrig und leer. Als wir eine halbe Meile gegangen waren,bekamen wir Schwindel, die Beine versagten, und die Knie wurden uns schwach. In unserer Hungerspein pflückten wir von den Dornensträuchern und von verschiedenen Bäumen Früchte, die wir am Weg fanden. So kamen wir endlich nach Mittenwald, und als wir den Ort betraten, fanden sich zwei gastfreundliche Männer, die uns für zwei Denare Brot verkauften. Wir bettelten uns noch Rüben dazu und ergänzten damit, was uns an Brot fehlte. Weiter zogen wir des Weges, an Städten, Burgen und Klöstern vorbei nach Augsburg, wo wir von dem Bischof liebreich aufgenommen wurden…»

Bruder Lorenzo legte die Hände auf das Buch. Die Rufe vorbeifahrender Ruderer klangen gedämpft ins Zimmer. Tiberius lag noch immer bewegungslos, mit wachen Augen, auf seinem Platz. Marco saß auf dem Podest und erwartete ohne sonderliche Spannung die Fortsetzung der Erzählung.

«So waren wir also nach Deutschland gekommen und konnten durch die Gnade Gottes unseren Orden dort gründen. Bruder Cäsar wurde der erste Minister des Ordens in Deutschland. Ich war mit meinen Brüdern nach Salzburg gekommen. Einmal nun rief uns Bruder Cäsar zu sich nach Worms. Wir zogen zu zweit und zweit durch die Städte und Dörfer. Ich ging mit Bruder Michael in einen Ort, um Speisen zu bekommen. Wir hatten es noch immer schwer, uns verständlich zu machen, und erhielten meist die gleiche Antwort: "Gott berate", was "Gott wird für euch sorgen" bedeutete. Da uns aber zu diesen Worten nichts gegeben wurde, so sagte Bruder Michael, der ein Spaßvogel war, zu mir: "Dieses Gott berate wird uns heute noch umbringen."

Ich fing nun an, lateinisch zu betteln. Die Deutschen aber antworteten: 'Wir verstehen kein Latein, sprich deutsch zu uns.' Ich sagte: 'Nichts deutsch.' Jene sagten: 'Das ist doch seltsam, daß du uns deutsch sagst, daß du nicht deutsch kannst', und fügten noch bei: 'Gott berate…' Ja, mein Sohn, so war das mit den Deutschen, sie sind gar lustige und derbe Leute, und die Berge reichen bis in den Himmel, und die Bäche in den Gebirgsschluchten sind durchsichtig wie grünes Glas; wenn du die Wellen mit den weißen Kronen über die Steine springen siehst, kommen sie dir wie übermütige Waisenkinder vor. Der Mann und die Frau, die vor uns standen und uns freundlich lachend 'Gott berate' auf unsere Bitte nach Brot entgegnet hatten, brachten mich schier zur Verzweiflung. Ich wußte mir keinen Rat mehr, lachte aus lauter Verzweiflung, setzte mich auf eine Bank und blieb sitzen. Der Mann und die Frau sahen sich an, lachten ebenfalls und gaben mir wegen meiner Unverschämtheit Brot, Eier und Milch. Als ich sah, daß diese Verstellung uns nützlich sei, ging ich auf ähnliche Weise durch zwölf Häuser und bettelte so viel zusammen, daß es für sieben Brüder reichte…»

Die letzten Sätze waren an Marcos Ohr vorübergerauscht; nur flüchtig hatte sich ihr Sinn ihm mitgeteilt. Die Schilderung des Mönchs hatte ihn nicht zu fesseln vermocht. Er dachte an den alten Zigeuner, glaubte dessen Gesicht zu sehen und die sonderbar erregenden Worte zum Takt des Tamburins zu hören: 'Tanze, Herkules! Bald wirst du an Königsund Fürstenhöfen tanzen!' Und dann war da das Meer, in vielen Farben schillernd und mächtige Wellen gegen das Land spülend; eine Riesenhand strich darüber hinweg und glättete es, daß es wie ein Spiegel glänzte. Das Gesicht Gianninas schimmerte darin. Ein Sonnenstrahl huschte über das Wasser und trug in das bekannte Mädchengesicht auf eigenartige Weise die Züge des alten Zigeuners hinein, ohne es etwa abstoßend und häßlich zu machen. Zsusinka, dachte Marco. Und mit dem Namen verband sich seine Sehnsucht nach dem Meer, nach dem Leben auf den Segelschiffen, nach Wanderungen auf unbekannten Straßen und nach dem Gewinn eines märchenhaften, an Gold und blitzenden Diamanten reichen Schatzes.

Bruder Lorenzo warf einen prüfenden Blick auf Marcos Gesicht.

«Meine Schilderung scheint dich nicht zu interessieren», sagte er mit leichtem Ärger in der Stimme.

Marco erwachte aus seinen Träumen.

«Doch, Bruder Lorenzo», erwiderte er höflich. «Ihr habt sehr gut erzählt. Nur war ich auf einmal mit meinen Gedanken ganz woanders.»

«Möchtest wohl ein Eroberer werden, wie der blinde Enrico Dandolo?»

«Ich liebe das Meer und die Schiffe, Bruder Lorenzo.»

«So so», nickte der Alte. Ich habe mein möglichstes versucht, Messer Pietro Bocco, dachte er und empfand insgeheim Genugtuung, daß Marco Polo nicht auf die Wünsche seines Oheims einging; denn Bruder Lorenzo trug in seinem alten Herzen noch ein Stück seiner abenteuerlichen Jugend, die ihn unruhevoll von Stadt zu Stadt, von Land zu Land getrieben hatte, sei es auch nur als Bettelmönch über die Straßen Deutschlands, Frankreichs und Ungarns.