«Ija, iiija», trieb ein Maultiertreiber seine Tiere an, die hochbeladen mit Heu gemächlich ihres Weges gingen.
Die beiden Jungen kamen an einer Glashütte vorbei, aus deren Kamin dunkler Rauch zum hellen Sommerhimmel stieg. Das Holztor war weit geöffnet. Die Glasmacher, ausgemergelt von der glühenden Hitze der Öfen, arbeiteten mit nacktem Oberkörper.
In der Nähe des Nonnenklosters, das auf der anderen Seite der Insel hart am Wasser lag, trafen sie Giannina. Sie wußte, daß Marco heute nach Murano kommen und mit Giovanni zum Fischteich gehen würde. Darum hatte sie an dieser Stelle gewartet. Aber sie tat so, als käme sie zufällig des Weges daher.
«Ach, da seid ihr beide?» sagte sie. «Beinahe wäre ich an euch vorbeigegangen. Guten Tag, Messer Marco, guten Tag, Messer Giovanni.»
Sie verbeugte sich und breitete die Arme aus wie eine Dame am Hofe des französischen Königs. «Es ist mir eine hohe Ehre, euch begrüßen zu dürfen, hochedle Herren.» Diese Anrede hatte sie von ihrer Mutter gelernt, die in der Küche des Nonnenklosters beschäftigt war und des öfteren mündliche und schriftliche geheime Botschaften der Nonnen nach der Stadt bringen mußte.
«Fein seht Ihr wieder aus, Messer Marco», sagte sie und lehnte sich an den Stamm einer dunklen, schlanken Zypresse. «Immer mußt du spotten», sagte Giovanni verlegen. «Laß sie, Giovanni. Sie wird bald wieder vernünftig.» Auf Marcos Stirn zeigten sich ärgerliche Falten.
Da fegte das Mädchen mit einem hellen Lachen die Mißstimmung hinweg und tanzte übermütig um die Jungen herum. «Nehmt mich mit», rief sie. «Wenn ihr mir abends helft, Wasser aus der Zisterne zu holen, kann ich mitkommen.»
«Gut, gut!» brummte Marco zufrieden. «Komm nur mit, ich habe eine schöne Geschichte zu erzählen.»
«Und Giovanni wird singen», sagte Giannina und legte den Arm um die Schulter des Freundes. «Ja, Giovanni? Wirst du singen?» Sie sah ihn bittend an.
Giovanni nickte. Aus seinem Gesicht war alle Wehmut verschwunden. Barfüßig ging er neben seinem Freund her, der staubige Pfad stieg leicht an und führte zu einer aus rohen Balken gefügten Brücke, die sich über einen schmalen Kanal spannte, der links und rechts mit Stämmen und Faschinen befestigt war.
«Geht nur», sagte Marco. «Ich komme gleich nach.» Er setzte sich nieder, zog Schuhe und Strümpfe aus und versteckte sie im Gebüsch. Dann lief er leichtfüßig und froh über die Brücke, bis er wieder neben Giovanni und dem Mädchen war.
Früher war es gefährlich gewesen, in die Nähe des Fischteiches, der dem reichen Landmann Celsi gehörte, zu kommen. Zwei Wächter, mit dicken Knüppeln bewaffnet, hatten darauf geachtet, daß keiner fischte oder sich am Ufer herumtrieb. Der Große Rat von Venedig aber hatte eine Verordnung erlassen, daß die Fischteiche der Inselstadt zugeschüttet werden müßten. Messer Celsi widersetzte sich anfänglich dieser Verordnung. Der Fischteich gehörte seit alters her zu den Gerechtsamen seiner Familie, hatte er dem Großen Rat in einem umfangreichen Schriftstück bewiesen, und die Regierung der Stadt habe kein Recht, ihm sein Eigentum zu nehmen. Die Proveditori seiner Pfarrschaft aber hatten ihm mit einer hohen Strafe gedroht, wenn er dem Befehl der Regierung nicht nachkommen werde. So war dem Messer Celsi nichts übriggeblieben, als nachzugeben.
Seit dieser Zeit gab es keine Wächter mehr. Ein Teil des Teiches war schon angefüllt worden, aber noch schimmerte eine ovale, an den Rändern mit Schilf bewachsene Wasserfläche und zog die Kinder zu Spiel und Fischfang an. Allerdings gab es nicht mehr viele Fische im Teich, Messer Celsi hatte ihn mit großen Netzen ausfischen lassen, und nur wenige große und zahlreichere kleine Fische waren dem Raubzug entgangen.
Der Teich lag unbewegt im Licht der Sonne, die hoch im Mittag stand. Keiner schien in der Nähe zu sein. Wer sollte auch zu dieser Stunde an den einsamen Ort kommen? Die Glasmacher standen bis in den Abend hinein vor den glühenden Öfen, die Bootsbauer setzten kunstfertig die Planken und Bretter zusammen, die Bauern und Tagelöhner arbeiteten auf den Feldern, die Maurer und Steinbauer bauten an den Palästen der Grafen, Herzöge und reichen Kaufleute, und die Bettler und Gaukler und Händler trieben sich vor den Kirchen und auf den Plätzen herum oder gingen von Haus zu Haus ihren verschiedenen Geschäften nach.
Im Schilf versteckt lag das Boot, das vor Wochen noch, halb mit Wasser gefüllt, neben dem brüchigen Holzsteg gelegen hatte. Giovannis Vater, der gute Ernesto, wie er von den Arbeitern genannt wurde, hatte es wieder flottgemacht. Er konnte Giovanni nichts abschlagen.
Die beiden Jungen und Giannina sprangen den sandigen Abhang hinunter, wateten durch brusthohes Schilf zum Boot und kletterten hinein.
Giovanni setzte sich auf die Steuerbank. Giannina und Marco ließen sich in der Mitte des Bootes auf die Planken nieder. Es war so seltsam still, daß man annahm, jeden Augenblick müsse etwas Besonderes geschehen. Die Blätter der beiden Birken auf dem Steilufer zitterten, eine Wildentenfamilie raschelte im Schilf, und hier und da plumpste etwas ins Wasser, als fiele ein Stein hinein.
«Frösche», sagte Marco.
Giovanni hatte sich so gesetzt, daß Giannina seinen Rücken nicht sehen konnte. Immer, wenn das Mädchen in der Nähe war, litt er unter seiner verwachsenen Gestalt. Manchmal glaubte er, ein böser Geist habe ihm den Höcker angehext. Einmal war er in seiner Verzweiflung zum alten Francesco gelaufen, von dem man sagte, daß er aus heilkräftigen Pflanzen Zaubertränke herstellen könne, und hatte ihn um ein Mittel zur Entfernung des Höckers gebeten. Francesco aber hatte ihm nicht helfen können. «Mach dir nichts daraus, mein Sohn», hatte er gesagt. «Du hast doch kräftige Arme und einen Brustkorb wie ein griechischer Athlet. Was macht schon der kleine Höcker? Gott hat dir gute Augen und eine herrliche Stimme gegeben. Geh, mein Sohn, sei nicht traurig!» Diese Worte hatte sich Giovanni tausendmal wiederholt, aber die Schwermut in seinem Wesen wollte nicht weichen.
Giannina las die Gedanken des Freundes in den feinen Linien seines Gesichtes. Und sie wollte, daß er froh sei. Aber es war nicht leicht, die richtigen Worte zu finden. So redete sie alles durcheinander, was ihr gerade einfiel. «Hört, wie die Vögel singen! Dort am Himmel eine weiße Wolke! Wie ein Schiff! Ein Krebs, sieh, Giovanni, ein Krebs!» Jeden Augenblick entdeckte sie etwas Neues.
Giovannis Gesicht hellte sich auf.
Sie sagt das alles nur, um Giovanni aufzuheitern, dachte Marco. «Soll ich euch nun die Geschichte von dem Edelstein erzählen?» fragte er laut. «Oder wollen wir erst hinausrudern?»
«Im Schilf ist es kühler. Und keiner kann uns entdecken. Erzähle, Marco!» bat Giovanni. Er zog die Knie an, umspannte sie mit den Armen und legte den Kopf lauschend zur Seite.
Marco begann: «Ich werde es so erzählen, wie ich es auf der Piazzetta gehört habe. Und der Geschichtenerzähler hat geschworen, daß jedes Wort wahr sei. Hört also: In Toulouse wohnte ein Graf, der eine schöne Tochter besaß. Er lebte mit seinem Nachbarn Don Fernando, Graf von Barcelona, seit langen Jahren in Fehde. Eines Tages aber, müde des ewigen Kriegführens, das wechselseitig beide Länder verwüstete, schlössen sie Frieden und kamen zu einem Gastmahl zusammen, auf dem sie sich mit größter Ehrerbietung begrüßten. Um den Friedensbund zu festigen, beschlossen sie, den Sohn des Don Fernando mit der schönen Julia, der Tochter des Grafen von Toulouse, zu vermählen. Nun hatte der Graf von Toulouse seiner Tochter versprochen, ihr einen Gatten nur mit ihrer Zustimmung zu wählen. Aber er hatte keine Sorge, denn der Jüngling war von edler Gesinnung und bewegte sich mit feinem Anstand, wie es die französische Höflichkeit verlangte. Die Eltern richteten es so ein, daß sich die beiden in Toulouse im Hause der Braut trafen. Julia und der Jüngling verliebten sich gleich beim ersten Zusammentreffen. Uber die Mitgift wurden sich die Eltern bald einig. Julias Vater hielt sie in guten Goldstücken bereit, die ihm der reiche Graf von Provence auf die Güter von Arles und Tarascon geliehen hatte.