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Einen flüchtigen Augenblick dachte er sogar daran, den Knaben vor den Ränkespielen seines Oheims zu warnen. Aber dann sagte er sich, daß es für ihn vorteilhafter sei, in diesen weltlichen Streit nicht einzugreifen. Seine flinken, listigen Augen glühten im Vorgefühl des Weines, den er sich, wenn sein Schüler gegangen war, von den großmütig gespendeten Zechinen Pietro Boccos leisten wollte. «Du kannst für heute gehen, mein Sohn. Ich muß ein wenig ruhen.» Der Alte erhob sich und schlug das Buch auf dem Pult zu. Eine Staubwolke tanzte zur Erde nieder. Tiberius sprang auf und geleitete Marco schweifwedelnd zur Tür. «Friede diesem Hause!» verabschiedete sich Marco. «Amen!» erwiderte Bruder Lorenzo. Tiberius bellte.

HÖLZERNE PERLEN

AN EINEM ABEND, ALS DIE LAGUNE IM WESTEN wie ein Feuermeer erglühte, stand Giovanni nach langer Zeit wieder auf den Steinstufen der alten Villa und lauschte dem Herzschlag des Wassers. Ein Fischerboot ruhte auf den Wellen, die kräftigen Farben des Himmels wurden blasser, bis sie jegliche Tönung verloren und im einförmigen Grau der Dämmerung verschwanden. Matt schimmerte die Mondsichel, vereinzelt blitzten Sterne auf.

Die weißen Marmorsäulen strebten wie schlanke versteinerte Baumstämme empor. Die Luft war von einem fernen Brausen erfüllt, als tobe über der Adria ein Meeressturm, der Schiffe wie Kinderspielzeug auf die Schaumkämme haushoher Wogen hob und im nächsten Moment in einen brüllenden Abgrund stürzte.

Die Lagune aber schwang in sanfter, weiter Bewegung aus, kleine Wellen umspülten Giovannis Füße, und das Wasser übte, wie immer im geheimnisvollen Dämmerlicht, seine magische Kraft aus.

Seitdem der Vater beim Bau des Palastes am Canal Grande verunglückt war, hatte Giovanni nicht mehr gesungen, er war noch nicht einmal der Aufforderung des Priesters gefolgt, im Knabenchor der San-Marco-Kirche zum Fest des heiligen Theodoras mitzusingen. Die Musik, die tief in seiner Seele schlummerte und in glücklichen Tagen durch eine besonders schöne Färbung des Wassers, durch Gianninas dunkle, fragende Augen oder durch einen blühenden Baum geweckt worden war, schien für immer verstummt zu sein.

Die Natur war wie eine schweigende Glocke.

Nacht und Tag ohne Musik. Wasser, Boote, Schiffe, die mit geblähten Segeln, stolz wie riesige Pfaue, davonschwammen — ohne Musik.

Ein Stein hatte Ernestos rechtes Bein zertrümmert; ein Stein, der längst wieder in den Bau des Palastes des Grafen Este eingefügt worden war. Von dem glatten carrarischen Marmor war kein Eckchen abgesplittert, Ernestos Heisch und Knochen hatten verhindert, daß der kostbare Marmor beschädigt wurde.

Die Maurer, Steinbauer und Zimmerer hatten zuerst hilflos vor dem am Boden liegenden, leise stöhnenden Ernesto gestanden. Sie liebten ihn alle, und er hieß «der gute Ernesto», weil es kaum einen hilfsbereiteren Menschen gab als ihn. Keiner konnte sich erinnern, jemals Streit mit ihm gehabt zu haben. Mittelgroß, breit in den Schultern, und mit Armen, die für drei schafften, wenn es darauf ankam, hatte er mit seinen ruhigen, abgemessenen Bewegungen die schwersten Arbeiten verrichtet.

Das morsche Tau am Hebebaum war gerissen und der Stein aus fünf Meter Höhe herabgesaust. Die warnenden Rufe ließen Ernesto im letzten Augenblick zur Seite springen, sonst wäre er erschlagen worden. Er stürzte, und der Stein zerschmetterte ihm das rechte Bein.

Solche Unfälle geschahen öfter. Aber daß es gerade dem bedachtsamen Ernesto passieren mußte!

Agniello faßte sich zuerst, er packte den zunächst Stehenden am Arm und zog ihn mit sich fort, um eine Krankentrage zu holen. Die anderen bildeten einen Kreis um den Verunglückten, zwei beugten sich nieder und bemühten sich um ihn.

Der gute Ernesto wurde in das Hospital des heiligen Petrus und Paulus gebracht, das zur Beherbergung der Pilgrime diente, die nach Palästina wallfahrten, und in seltenen Fällen auch Kranke und Verwundete aufnahm.

Giovanni erinnerte sich an den Nachmittag, als zwei Maurer in ihrer Arbeitskleidung mit gezogenen Kappen in das kleine Haus Ernestos getreten waren und die Nachricht von dem Unglück, das den Vater getroffen hatte, überbrachten. Fast verlegen standen die zwei Männer vor dem Knaben; Giovanni kannte sie, es waren ja Freunde des Vaters, gute Freunde, die Ernesto manchmal zu einem Schoppen im Weinhaus abgeholt und mit dem Jungen freundlich gescherzt hatten.

Ihre Gesichter wirkten so fremd, und auch ihre Stimmen klangen, als gehörten sie nicht ihnen.

Was hatten sie gesagt? 'Ernesto verunglückt — dein Vater — das Bein zerschlagen…?' Das konnte doch nicht wahr sein. Aber warum war der Vater nicht mit ihnen gekommen? Was wollten sie von ihm? Es war plötzlich leer in seinem Gehirn, als hätten die wenigen Worte alle Gedanken entfernt.

«Vater ist verunglückt?» fragte er nach einer Weile ungläubig und erwartete, daß sie ihn mit ihren rissigen Kalkhänden am Kragen nehmen und freundschaftlich schütteln würden: «Da ist er doch, dein Vater. Komm herein, Ernesto, sieh dir einmal an, was für Angst wir deinem Jungen eingejagt haben.»

Aber die Männer blieben schweigend stehen und blickten scheu zur Seite, als sich das tiefe Erschrecken und der zuckende Schmerz in das junge, ernste Gesicht eingruben.

Giovanni weinte nicht. Der Vater lebte ja. Vielleicht war alles gar nicht so schlimm? Ohne Zögern lief er zum Hospital. Er konnte später nicht sagen, welchen Weg er genommen hatte. Nur so viel wußte er, daß er bei der Kathedrale San Donato stolperte und in den Straßenschlamm fiel, sich aber sofort wieder aufraffte und über und über beschmutzt schließlich vor der großen Pforte des Hospitals anlangte. Ein Bruder, gekleidet in eine schwarze Kutte, mit einem runden, weißen Gesicht unter der Kapuze, empfing ihn und führte ihn in einen Warteraum, der einem düsteren Gewölbe glich und nur ein einziges kleines Fenster nach der Wasserseite hatte. Die Mauern des Hospitals waren fast fünf Fuß stark.

Giovanni war es, als müsse er stundenlang warten. Endlich kam der Bruder zurück, setzte sich umständlich auf einen Schemel und erklärte Giovanni, daß er den Vater nicht sehen könne. Der Arzt sei gerade bei ihm, wahrscheinlich müsse er dem Verunglückten das Bein abnehmen. Giovanni solle sich in Geduld fassen und zu Gott beten, daß alles gut abgehe.

Die Pforte bewegte sich knarrend in den Angeln, öffnete sich, schloß sich wieder. Giovanni stand auf der Straße.

Hinter dem großen schwarzen Tor lag der Vater. Der Arzt war gerade bei ihm.

Giovanni ging wie im Traum zurück und zog zum zweitenmal an dem Glockengriff. Wieder bewegte sich die Pforte knarrend in den Angeln. Das Geräusch schmerzte.

«Was willst du schon wieder?» fragte der Bruder mit dem runden, weißen Gesicht, ein wenig unwillig, wie es schien. «Du kannst doch jetzt nicht zu ihm…»

Giovanni sah ihn mit seinen hellen Augen an; die Stirn des Bruders glättete sich.

«Sagt Ihr dem Vater, daß ich hiergewesen bin?» fragte Giovanni ernst. Und als er das Nicken sah, fügte er eifrig hinzu: «Sagt ihm auch, daß ich alles in Ordnung halte, das Haus und den Garten. Er braucht sich keine Sorgen zu machen…» «Ich werde es ihm sagen. Aber nun geh nach Hause!» Elena und Pietro, Gianninas Eltern aus dem Nachbarhaus, erwarteten ihn schon.

«Gut, daß du da bist! Wie geht es ihm? Ach, mein armer Junge», sagte die Frau mit Tränen in den Augen. «Hier, iß erst einmal! Morgen gehe ich zu Giannina und erzähle ihr, was geschehen ist. Aber sprich doch, wie geht es ihm denn? Der arme Ernesto!»

«Sei doch ruhig, Frau», sagte Pietro leise, «siehst du nicht, daß er noch ganz verstört ist?»

«Der Arzt ist gerade bei ihm», sagte Giovanni mit abwesendem Blick, «er wird ihm wahrscheinlich das Bein abnehmen müssen.»

«Hier auf dem Tisch liegt Geld, Giovanni», sagte Pietro und schob seine Frau, die in lautes Wehklagen ausgebrochen war, hinter sich. «Die Maurer, Zimmerleute und Steinträger haben es gebracht. Versuche jetzt zu schlafen, oder komm zu uns herüber…»