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Giovanni durfte den Vater nach fünf Tagen zum erstenmal besuchen. Er verbarg seine Erschütterung, als er das eingefallene, graue Gesicht auf dem weißen Laken sah, und sagte ganz fröhlich: «Jetzt ist ja alles gut, Papa. Ihr werdet staunen, wie schön der Garten geworden ist, wenn Ihr nach Hause kommt. Gestern war Agniello da, vorgestern Giorgio, jeden Abend kommt ein anderer und fragt, wie es Euch gehe und ob er; mir helfen solle.»

«Das Bein ist hin, Giovanni», erwiderte Ernesto mit trauriger Stimme. «Niemals werde ich wieder auf dem Bau arbeiten können…»

«Das macht nichts, Papa», unterbrach ihn Giovanni, «ich bin doch bald vierzehn Jahre alt…» Er beugte sich zum Gesicht seines Vaters und sagte fast feierlich: «Seit gestern bin ich beim Meister Benedetto in der Lehre. Ich werde Bootsbauer, Papa, ein berühmter Bootsbauer, wie der Meister Benedetto. Er hat mir schon viele Kniffe beigebracht.»

«So, hat er dir schon viele Kniffe beigebracht», der Vater schmunzelte. Und Giovanni war so froh, als er das Lächeln auf dem grauen Gesicht sah. «Sie sind alle so freundlich zu mir, Papa…»

«Daß dich Meister Benedetto aufgenommen hat…», sagte Ernesto verwundert. «Da bist du wahrhaftig in guten Händen. Lerne nur tüchtig; Benedetto ist einer der besten Bootsbauer in Venedig.»

Die Krankenluft in dem Saal mit den sechzehn Betten roch dumpf. Lautlos huschte ein Mönch von Bett zu Bett, hier und da wurde ein Stöhnen hörbar. Selbst am hellen Tage, wenn draußen die Sonne schien, herrschte in dem Raum mit der gewölbten Decke die Dämmerung. Jedesmal, wenn Giovanni den Vater besuchte, verspürte er das gleiche beklemmende Gefühl.

«Singst du noch, Giovanni?» fragte Ernesto eines Tages. Sein Gesicht war wieder voller geworden, und er konnte schon über die Schmerzen, die er im rechten großen Zeh zu spüren vermeinte, einen Scherz machen.

«Ich singe nicht mehr, Papa.» Als Giovanni bemerkte, daß der Vater mit dieser Antwort nicht zufrieden war, setzte er stolz hinzu: «Ich baue jetzt Boote und Schiffe. Das ist eine große Kunst.»

«Wirst auch wieder singen, Giovanni…»

An diese Worte dachte Giovanni jetzt. Mehr und mehr senkte sich die Dunkelheit hernieder. Das Brausen des fernen Windes klang wie Muschelton, und die Lagune verharrte in schweigender Unbewegtheit. Viele Sterne hatten am Himmel ihr Licht entzündet, und die Mondsichel schien mit schimmernden Diamanten eingefaßt.

Ich habe einen Höcker, und mein Vater hat ein Holzbein. Eine schöne Familie! Die häßlichen Gedanken nisteten sich wie Wühlmäuse in seinem Gehirn ein.

«Was ist Venedig ohne unsere Kunst, Boote und Schiffe zu bauen?» hörte Giovanni die Stimme Meister Benedettos, mit dem immer zu Spott geneigten Unterton. «Ein armseliges, nach Fisch und Maultiermist stinkendes Labyrinth von Holz- und Steinhäusern! Wir machen Venedig zur Königin mit den Schiffen und Barken, die wir bauen, unsere Köpfe erfinden den schönsten Schmuck… Hölzerne Perlen sind die Schiffe, merke dir das, mein Junge, sonst wirst du nie ein vernünftiger Bootsbauer werden, hölzerne Perlen…»

Giovanni glaubte das Lachen Meister Benedettos über diesen seltsamen Vergleich zu vernehmen.

Auf San Michele flammte ein Feuer.

Ein Musikant hatte sich an eine einsame Stelle gesetzt und spielte auf dem Fagotto ein Lied. Weit klangen die klagenden Töne über Land und Wasser.

Es war die siebente Abendstunde. Giovanni wurde unruhig. Er spähte angestrengt in die Dunkelheit und lauschte auf jedes Geräusch. Ein Boot näherte sich, aber es kam nicht von Venedig, sondern aus der entgegengesetzten Richtung. Ein Fischer ruderte dicht an Giovanni vorbei, ohne ihn zu bemerken. Tropfen fielen vom Ruderblatt zurück, es hörte sich an, als würden Steinchen ins Wasser geworfen.

Auf dem Friedhof von San Michele, dort, wo das Feuer brannte, ruhte Marco Polos Mutter.

Giovannis Vater saß auf der Bank vor seinem kleinen Haus, die Krücken neben sich, und sann darüber nach, daß es bald Zeit sei, irgendeine Arbeit anzunehmen. Er konnte nicht länger untätig zu Hause sitzen und von den Almosen der Freunde leben.

Vieles hatte sich in den vergangenen Wochen geändert. Aber eines war geblieben, war in den schweren Stunden sogar noch stärker geworden: die Freundschaft Giovannis zu Marco und Giannina. Sie sahen sich seltener als früher, doch wenn sie zusammenkamen, spürten sie ohne viele Worte, wie die Freundschaft gewachsen war.

Die beiden Jungen empfanden aber auch, daß das Leben begann, ihre Wege auseinanderzuführen.

Marco liebte das Meer und die Schiffe; alles zog ihn in die Ferne, und der kindliche Wunsch, in fremden Ländern nach verborgenen Schätzen zu suchen, war nichts anderes als ein Widerschein des Strebens venezianischer Kaufleute nach einem gewinnbringenden Handel und all den Abenteuern, die damit verbunden waren.

Giovanni aber wandte seine Sehnsucht immer mehr der Kunst des Meisters Benedetto zu. Er suchte das Glück nicht in der Ferne, sondern verfolgte mit der ihm eigenen Beharrlichkeit das Ziel, auf Murano ein angesehener Bootsbauer zu werden, um hier, auf der von Wasser und spiegelnden Lichtreflexen umgebenen Laguneninsel, mit dem Blick auf das farbenprächtige, lebensprühende Venedig, ein geruhsames Leben mit seinem Vater und Giannina führen zu können. Giannina gehörte zu ihm; solange er zurückdenken konnte, hatte er mit ihr alle Freuden und alle Ängste geteilt. Seitdem sie in Venedig war, glaubte er manchmal etwas Fremdes in ihren Augen zu finden, das ihn beunruhigte.

Heute abend wollten Marco und Giannina nach Murano kommen. Deshalb stand Giovanni seit geraumer Zeit auf dem vereinbarten Treffpunkt und wartete.

Und in der Ungeduld des Wartens brachen wie ungebärdige Fohlen die Gedanken hervor, die schon längere Zeit im Hintergrund gelauert hatten: Vielleicht kommen sie gar nicht? Ich stehe hier und warte, wer sagt mir denn, daß sich Giannina so sehr auf den Besuch Muranos freut? In Venedig ist Karneval. Die Piazzetta und der Marcusplatz, die Kanäle und Brücken wimmeln von bunten Masken.

Müde wehrte Giovanni die finsteren, mißtrauischen Gedanken ab.

Es war eine Herbstnacht mit tausend Sternen, ein Nachklang des vergangenen Sommers, der heiß und von grellem Licht erfüllt gewesen war.

Kam nicht ein leises Mädchenlachen von San Michele herüber und mischte sich mit den Tönen des Fagotto und der fernen Musik des Meerwindes? «Giovanni! Giovanni!» rief eine Mädchenstimme.

Da begann die unsichtbare Glocke wieder voll und rein zu klingen.

Er legte die Hände an den Mund und rief mit einer Stimme, die wie tönendes Erz über das Wasser klang:

«Giannina!» Und noch einmal, jede Silbe betonend: «Gian — ni — na!» Dann kräftig und schmetternd wie Fanfaren: «Marco! Marco!» «Wirst auch wieder singen», hatte der Vater gesagt.

Das Boot tauchte wie ein großer plumper Fisch im Dunkel auf und steuerte auf Giovanni zu.

«Hast du das Feuer auf San Michele gesehen, Giovanni?» fragte Marco, noch ehe er ausgestiegen war. «Giannina hat es angezündet, du solltest daran erkennen, daß wir bald kommen. Auf die verrücktesten Ideen kommt sie manchmal, deine Seeräuberbraut.»

Er lachte laut und herzlich. Wenn er den Fuß auf Murano setzte, war er unbeschwert wie ein Vogel, der am blauen Himmel schwebt.

«Da sind wir endlich einmal wieder zusammen», sagte Giannina in leichter Verlegenheit. «Wie geht es dem Vater?»

«Ach, er schmiedet Pläne. Sitzt vor dem Haus und glaubt, daß er schon wieder Bäume ausreißen könnte.»

Paolo befestigte das Boot an einem Pfahl, der im Wasser stand. Es war ausgemacht worden, daß Marco, Giannina und Paolo die Nacht auf Murano verbringen sollten, um am nächsten Morgen erst nach Venedig zurückzukehren.

«Messer Pietro Bocco wird böse sein, wenn er davon erfährt», hatte Paolo gewarnt. «Er könnte es als Anlaß benutzen, mich aus Euren Diensten zu entfernen.»