Marco hatte ihn beruhigt. «Nie werde ich das zulassen, Paolo. Mach dir keine Sorgen. Du kannst bei mir bleiben, solange du willst. Und wenn ich einmal auf Reisen gehe, nehme ich dich mit.»
Paolo war in die Gemeinschaft der drei aufgenommen worden, so daß sie ohne Scheu vor ihm sprachen. Er gehörte zu ihnen wie ein großer Bruder, der seine schützende Hand über sie hält. «Schön ist der Abend», sagte Marco. «Immer ist es schön auf Murano.»
Sie setzten sich auf die Steine nieder und blickten über das Wasser. Nicht weit von ihnen zog eine größere Barke, von kräftigen Ruderschlägen bewegt, vorüber. Die Töne des Fagotto waren verklungen.
«Da hast du also das Feuer angezündet», sagte Giovanni. «Ich dachte mir beinahe, daß es ein Zeichen von euch sei.»
«Siehst du, Marco», rief Giannina und klatschte vor Vergnügen in die Hände. — «Was für ein Unsinn, ein Feuer anzuzünden», ahmte sie Marcos Stimme nach, «wie kann Giovanni ahnen, daß es für ihn bestimmt ist. -Du brauchst jetzt nicht zu lachen», sagte sie mit gespielter Empörung, «ärgerst dich nur, weil ich recht hatte!»
Marco aber war in Wirklichkeit gar nicht zum Lachen aufgelegt. Die unbefangene Freude Gianninas, die sich in ihren Bewegungen, ihrem Mienenspiel und ihren schnellen Worten ausdrückte, rief eine Traurigkeit in Marco hervor, die ihm sonst fremd war. Sie legte sich wie ein Schleier über seine Gefühle und dämpfte sie zu einem angenehmen Mitleid mit sich selbst.
«Ich lache eben», sagte er fast böse. Und er lachte noch einmal. Es war ein Lachen, das die Stimmung der Herbstnacht störte. Gleich darauf ärgerte er sich selbst darüber.
Doch Giannina verscheuchte die Verstimmung; plötzlich fand sie begeisterte Worte für den Mond am dunklen, sternenbesäten Himmel, dann glaubte sie ein Glühwürmchen zu entdecken, sprang auf, jagte ihm nach und kam mit der aufgeregten Mitteilung zurück, daß sie sich beinahe an einem Glassplitter verletzt hätte.
«Glas», sagte sie, «überall liegt Glas herum auf Murano. Wenn es wenigstens ein Diamant gewesen wäre!»
Paolo saß mit leisem Schmunzeln abseits und spielte mit einer Rute, die er von einem Weidenbaum abgeschnitten hatte.
Die schweigende Nacht, das leise Gespräch und die tanzenden Lichter auf der Lagune verliehen den Wünschen die Flügel der Phantasie.
Uber Giovannis Züge flog ein froher Schein, der die feinen und doch kräftigen Linien seines ernster gewordenen Gesichts hervorhob. Meister Benedettos Worte kamen ihm in den Sinn: «Die Arbeit bekommt dir. Bist breit in den Schultern wie Ernesto, dein Vater, und hast seinen ruhigen Sinn…»
«Die Arbeit bekommt mir gut», sagte er und reckte sich stolz.
«Hast ordentlich Arbeitshände bekommen», meinte Giannina und strich neugierig mit dem Finger über seinen Handteller.
«Ich muß jetzt oft an Zsusinka denken», sagte Marco. «Wie mag es ihr wohl ergangen sein? Manchmal hätte ich Lust, nach Damaskus zu fahren, um sie zu suchen.»
Sie hatten sich schon mehrmals über Ferko, den alten Zigeuner, der irgendwo mit Herkules und Pippino durch Städte und Dörfer zog, unterhalten. Und Zsusinka, das unbekannte Zigeunermädchen, war ihnen vertraut wie eine Schwester geworden; ihr unbestimmtes Schicksal, das an ein Märchen erinnerte, gab immer wieder Anlaß zum Nachdenken und Träumen. Auch heute, im zarten Dunkel der Sternennacht, erfanden sie Geschichten, in denen sie sich ausmalten, wie es Zsusinka wohl ergangen sein könnte.
Für Giovanni und Giannina war es eigentlich mehr ein Spiel mit dem feinen Gewebe der Phantasie, während aus Marcos Worten der Glaube sprach, daß er eines Tages Näheres über Zsusinka erfahren oder ihr gar von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen werde. Er stellte sich vor, daß sie Giannina ähnlich sähe, mit vollen roten Lippen und Augen wie glühende Kohlen.
Vom Wasser kam ein kühler Hauch. Giovanni, der keine Strümpfe anhatte, zog fröstelnd die Schultern ein.
Ein leiser Wind wehte vom Land her und trug den Rauch aus dem Schornstein des nahen Glasofens mit sich.
Die Glasöfen Muranos durften auch in der Nacht nicht verlöschen.
Die Wolken am Himmelsgewölbe kamen in Bewegung. Der Wind hatte sich aufgemacht und trieb sein Spiel mit ihnen, schob sie vor die Mondsichel, blies sie wieder auseinander und setzte sie erneut zu Wolkengebirgen und bizarren Gestalten zusammen.
Ernesto saß indes auf der kleinen, selbstgezimmerten Bank vor seinem Haus. Elena, die Nachbarin, war bei ihm gewesen und hatte ihm einige Scheiben geräucherter Wurst gebracht. Sie hatte sich gleich wieder verabschiedet, weil sie für Pietro, der diese Nacht arbeiten ging, das Essen zubereiten mußte. Es war Ernesto auch recht, allein zu sein — allein mit seinen Krücken und seinen Sorgen, die ihn mehr denn je bedrückten.
Er dachte über den merkwürdigen Besuch nach, den er heute morgen empfangen hatte. Giovanni wußte noch gar nichts davon. Messer Celsi war bei ihm gewesen und hatte sich nach Ernestos Befinden erkundigt.
Ernesto bewegte seine linke Fußspitze unruhig hin und her; sein Beinstumpf schmerzte wieder. Leise raschelte der Wind in den Bäumen und Sträuchern.
Ein Glück war es, daß Meister Benedetto den Jungen aufgenommen hatte, ohne das übliche Lehrgeld zu verlangen. Aber Giovanni besaß nicht einmal Strümpfe und lief wie ein Landstreicher umher. An sich selbst dachte Ernesto nicht. Er gab sich mit dem zufrieden, was gerade im Hause war. Sein Essen bestand hauptsächlich aus Polenta, einem dicken Brei aus Kornmehl und Wasser, der in heißer Asche gebacken wurde. Polenta gab es zum Frühstück, zum Mittag und zum Abend. Manchmal aß er sogar eine gesalzene Sardelle oder ein Stück gesalzenen Käse dazu.
Messer Celsi war sehr freundlich gewesen und hatte mit Ernesto wie mit seinesgleichen gesprochen. «Du bist jetzt in Not, Ernesto. Aber schau, ich will dir helfen, bin gar nicht so schlecht, wie die Leute mich hinstellen. Die Dirne», er wies auf das Nachbarhaus, «hätte nicht so empfindlich zu sein brauchen. Aber ich nehme ja nichts krumm, bin ein Gemütsmensch. Ist sie weg? Gut! Es gibt genügend Mägde, die gern bei mir arbeiten, oder meinst du nicht?»
Ernesto gab ihm keine Antwort und unterdrückte den Unwillen, der in ihm aufstieg.
«Wie gesagt, Ernesto», sprach Messer Celsi weiter, «ich will dir helfen, kann doch einen so tüchtigen Landsmann nicht im Stich lassen. Wenn du Geld brauchst, bitte, der Celsi gibt es dir. Da setzen wir ein Papierchen auf, daß du es mir in drei Jahren zurückzahlst…»
So ungefähr hatte Messer Celsi gesprochen. Ernesto könne auf der Stelle zweihundert Zechinen oder auch mehr bekommen, die Zinsen seien nicht der Rede wert, da würde man schon einig werden.
«Wo nur die Kinder bleiben?» schrie Elena hinüber. «Geh ins Haus, Ernesto, es wird kühl…»
Ernesto spielte gedankenverloren mit den Krücken, die er sich selbst angefertigt hatte. Er wußte natürlich genau, daß Messer Celsi sein Angebot nicht aus Menschenfreundlichkeit gemacht hatte, sondern auf diese Weise versuchte, in den Besitz von Ernestos Haus zu gelangen.
«Kannst du nicht zahlen, gut, nehmen wir dein Haus. Hier auf diesem Papier steht, daß du mir zweihundert Zechinen schuldest.» Von dieser Art war Messer Celsi. Uberall, wo es etwas zu holen gab, tauchte der nimmersatte Celsi mit seinem Geiergesicht und der schwarzen Haarsträhne auf und sprach freundliche, hilfsbereite Worte.
Was sollte Ernesto machen? Seine Kollegen hatten ihm bis jetzt geholfen, und auch die Nachbarsleute taten alles mögliche, um ihm sein Los zu erleichtern. Aber sie waren ja selbst arme Teufel, die sich recht und schlecht durchs Leben schlugen.
Das Herz tat ihm weh, wenn er seinen Jungen in der zerschlissenen Kleidung herumrennen sah.
Zweihundert Zechinen! Damit konnte er sich ein Fischerboot kaufen, und auch für Giovanni bliebe noch etwas übrig. Doch würde er in der Lage sein, Messer Celsi die Summe zum festgesetzten Zeitpunkt zurückzuzahlen? Das Fischen brachte nicht viel ein. Ernesto wußte, daß die Fischer froh waren, wenn sie für ihre Familien das notwendige Geld für das Essen und die ärmliche Kleidung verdienten. Und es war ja auch unmöglich, allein hinauszufahren. Er brauchte einen kundigen Begleiter. Rudern wollte er schon, er besaß ja noch kräftige Arme. Beim Rudern machte es nichts aus, wenn ein Bein fehlte. Und einen Begleiter würde er sicher finden, wenn er erst ein Boot hätte.