Nun besaß die schöne Julia einen Diamanten von seltener Kostbarkeit. Er war so groß wie ein Taubenei und funkelte im Sonnenlicht, daß man die Augen von ihm abwenden mußte. Er strahlte wie eine kleine Sonne und tauchte die Umgebung in gleißendes Licht. Diesen Diamanten, den sie zur Hochzeit in Barcelona tragen wollte, vertraute Julia ihrem Verlobten an, damit er ihn wohlbehalten in sein Haus bringe.
Der Jüngling ritt nach herzlichem Abschied wohlgemut mit seinem Gefolge zur Küste, wo sie ein Schiff zur Weiterfahrt erwartete. Ein böses Schicksal wollte es, daß sie unterwegs von normannischen Seeräubern, die sich bis in die katalonischen Gewässer gewagt hatten, angegriffen und nach kurzem, heftigem Kampf besiegt wurden. Die meisten aus dem Gefolge des jungen Grafen waren im Kampf gefallen, er selbst aber war wie durch ein Wunder unverletzt geblieben. Die Räuber plünderten das Schiff und schleppten die Gefangenen, von denen sie sich ein Lösegeld erhofften, nach ihrem Schlupfwinkel auf der Insel Madeira. So fiel der kostbare Diamant, den die schöne Julia zu ihrer Hochzeit tragen wollte, in die Hände der Seeräuber und ist bis heute nicht wieder aufgetaucht.»
Marco, der während seiher Erzählung aufs Wasser geblickt hatte, sah nun erwartungsvoll auf Giannina und Giovanni.
«Und was ist mit dem Jüngling geschehen?» fragte Giannina. «Erzähl doch weiter!»
«Und Julia, die Braut?» fügte Giovanni hinzu.
«Der junge Graf ist freigelassen worden, nachdem die Seeräuber das hohe Lösegeld in Gold erhalten harten. Aber Julia war über den Verlust des kostbaren Diamanten so erbost, daß sie ihrem Verlobten heftige Vorwürfe machte. Sie sagte, sie würde ihn erst dann heiraten, wenn er den Diamanten wieder herbeigeschafft hätte.»
«Eine schlechte Braut», sagte Giannina empört. «Ich hätte ihn geheiratet, und wenn er bettelarm geworden wäre. Er kann nur froh sein, daß die Seeräuber den Diamanten geraubt haben. Wenigstens hat er den schlechten Charakter seiner Braut kennengelernt.»
Giovanni nickte zu Gianninas Worten. Aber Marco fuhr fort: «Der Geschichtenerzähler hat weiter berichtet, daß der Jüngling untröstlich über Julias Worte gewesen ist und nun schon seit Jahren mit drei Schiffen nach den Seeräubern sucht, die den Diamanten erbeutet haben.»
«Ein Esel ist er», sagte Giannina und zog verächtlich die Augenbrauen hoch. «Er wird den Diamanten nie finden.»
«Das Meer ist weit», meinte Giovanni. «Wenn du am Strand des Lido stehst und aufs Meer hinausschaust, dann siehst du nur Wasser und Himmel. Und die großen Schiffe sind in der Ferne winzig kleine Punkte.»
«Ich glaube, daß der Jüngling den Diamanten finden wird», sagte Marco erregt. «Wenn man sich etwas fest vorgenommen hat, erreicht man es auch.»
Die drei im Boot hingen noch eine Weile ihren Gedanken nadi. Giannina meinte dann, daß sie sich das Leben auf einem Seeräuberschiff gut vorstellen könne. Sie hätte nichts dagegen, an einem Streifzug der Seeräuber teilzunehmen.
«Mädchen kann man da nicht gebrauchen», sagte Marco.
«So? Meinst du, der Anführer der Seeräuber hätte keine Braut?» fragte Giannina zornig. «Wenn wir drei auf einem Seeräuberschiff wären, würde ich Giovannis Braut sein.» Marco wollte spöttisch auflachen. Aber als er Giovannis frohes Gesicht sah, unterdrückte er es.
Sie ruderten auf das Wasser hinaus und blieben mitten auf dem Teich liegen. Marco genoß die Stille der Natur. In Venedigs Straßen, auf den Kanälen und Plätzen, an den Kais, wo die Schiffe anlegten, war es laut und erregend, so daß die Tage bis zu der Fahrt nach Murano wie ein Vogelschwarm eilig vorbeirauschten. In Venedig war sein Herz immer in Aufruhr. Hier bei den Freunden fühlte er, wie die innere Unruhe wich. Er konnte ihnen alles sagen, was ihn bewegte. Sie hörten ihm gespannt zu, wenn er davon sprach, daß er eines Tages mit einem Schiff über das Meer fahren werde, um in den fernen Ländern seinen Vater und seinen Onkel zu suchen; und sie glaubten fest daran, daß er seinen Vorsatz ausführen werde. Dieser Glaube half ihm über viele Zweifel hinweg, die ihn quälten. Ja, so war es: Hier auf Murano dachte keiner daran, ihn drei Tage einzusperren, wenn er von seiner Lieblingsidee sprach. Er war nun schon vierzehn Jahre alt, konnte lesen und schreiben und hatte von Bruder Lorenzo viel Interessantes von fremden Ländern und Städten erfahren. Auch aus den Gesprächen der weitgereisten Kaufleute, der Seefahrer und Kreuzritter hatte er hier und da einige Worte aufgefangen, die seine Vorstellung von den fremden Völkern erweiterten.
«Marco, wo bist du wieder mit deinen Gedanken?» rief Giannina und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. «Jagst du noch dem Diamanten nach? Stumm wie die Fische seid ihr heute. Laßt uns ans Ufer fahren und Krebse fangen!» «Giannina hat recht», sagte Giovanni. «Rudere ans Ufer, Marco.» Aber der Krebsfang wollte nicht glücken. Vergebens wateten sie im Wasser umher, kein Krebs war heute zu sehen. Da legten sich die beiden Jungen am Ufer in die Sonne, und Giannina lief, um Essen zu besorgen. Bald kam sie mit zwei Melonen und einem Kanten Weißbrot zurück. Marco zog seinen Dolch, den er immer bei sich trug, heraus und zerschnitt die Früchte. Das gelbe, saftige Fleisch schmeckte süß und duftete.
Nachdem sie gegessen hatten, ruderten sie den Kahn wieder ins Schilf und machten sich auf den Weg nach der verfallenen Villa. Sie wollten sich auf die Steinstufen setzen und warten, bis Paolo käme. Marco holte seine Schuhe und Strümpfe aus dem Versteck neben der Holzbrücke und trug sie unter dem Arm. Es war angenehm, barfüßig über die sonnenwarme Erde zu gehen. Auf der Wiese rechts neben dem Pfad weidete eine Kuhherde.
Sie gehörte dem Messer Celsi, der auch ohne Rschteich reich genug war, um seine beiden Töchter wie die Damen der Patrizier und Edelleute in Brokat und Seide zu kleiden.
Noch immer lag die Lagune unbewegt, nur hier und da, wenn ein flüchtiger Windhauch darüber hinweghuschte, kräuselte sich die Oberfläche des Wassers. Die Sonne neigte sich langsam und stetig dem Abend zu. Der Gesang der Vögel klang müde, und die Heckenrosen hinter dem Zaun senkten die Köpfe.
Giovanni hatte sich auf die Steine gesetzt und summte leise eine Melodie. «Sing, Giovanni», bat Giannina.
Und Giovanni sang das alte Lied von den zwei Fischern, die auf das Meer hinausfuhren, mit den Wellen um ihr Leben kämpften und am Abend mit reichem Fang zurückkehrten.
Seine Stimme klang so strahlend hell über die Lagune, daß alles ringsumher versank. Die Melodie wehte bis zu den Fischern hinaus. Sie vergaßen die Netze und wandten die Köpfe dem Sänger zu, der jetzt auf den weißen Stufen stand und die Arme ausgebreitet hielt. Paolo, der sich mit schnellen Ruderschlägen näherte, ließ die Ruder sinken und blieb unbeweglich auf der Lagune liegen. Der Himmel und das Wasser umfingen die Insel wie gläserne Mauern, die die Töne zurückzuwerfen schienen.
Giannina saß zu Füßen des Freundes und sah unverwandt zu ihm hinauf. Sein Gesicht hatte sich verändert, die Augen leuchteten noch heller als sonst, und um den Mund und die Augen lag das stolze, trotzige Lachen der Fischer, die mit ihrem Boot das Wasser bezwangen und im Toben des Sturms ihren Mut und ihre Kraft erprobten.
«Giovanni singt!» Ganz leise formten Gianninas Lippen diese Worte. Und der Gesang war für sie wie ein Wunder.
Marco stand am nahen Zaun und spürte nicht den betäubenden Duft der Rosen. Er sah, wie der Schatten des Feigenbaumes auf die Steine fiel, er sah Giannina und Giovanni, er nahm die Marmorsäulen und den sonnenglänzenden, silbernen Wasserspiegel wahr. Das alles gehörte zu der Melodie und den Worten, die der Freund in der weichen venezianischen Mundart sang. Marco fühlte seine Kräfte wachsen. Er war bereit, eine Heldentat zu vollbringen. Der Gesang gab ihm große und kühne Gedanken ein.