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Senator Pietro Bocco. - Nur Marco Polo, der Erbe seines Schwagers, war ihm noch im Wege. Mit der Heimkehr Nicolo Polos war ja nicht mehr zu rechnen. Und die Schiwester würde den Schmerz über den Verlust ihres Sohnes nicht überleben.

Pietro steckte seinen Kopf zum Fenster hinaus und sah die unzähligen Sterne am Himmel. Es war eine milde Nacht, ein leiser Wind fächelte Kühlung. Im Wasser spiegelten sich die Sterne, unruhiger Schein von Fackeln huschte darüber hin. Vom Holzlagerplatz kam der würzige Geruch des Buchen- und Tannenholzes, das von den Zimmerleuten zu Masten und Rudern verarbeitet werden sollte.

Senator Pietro Bocco! Wenn er erst Senator wäre und wieder Patrone dell'Arsenale würde, brauchte er diesen entwürdigenden Nachtdienst nicht mehr zu leisten. Das bliebe den anderen drei Patroni vorbehalten, die nicht im Senat saßen. Er hätte es dann auch nicht mehr nötig, im Arsenal zu wohnen, sondern könnte sich draußen frei bewegen und fände genügend Zeit, vorteilhafte Handelsgeschäfte abzuschließen.

Die Arsenalarbeiter nannten den Palast, den er im Arsenalgelände bewohnte, die «Hölle». Und sie hatten recht mit dieser Bezeichnung. Der Aufenthalt in diesem düsteren, ungemütlichen Bau war nicht angenehm. Der zweite Palast, in dem Paolo Fragipani wohnte, hieß «Fegefeuer» und war nicht gemütlicher als Pietro Boccos Behausung. Der Palast des dritten Patrone dell'Arsenale aber wurde «Paradies» genannt.

Pietro Bocco erinnerte sich, daß er in dem geheimen Kampf um die beste Wohnung im Arsenal unterlegen war, weil er dem verantwortlichen Senator nicht so viel Dukaten bieten konnte wie die beiden anderen Bewerber. Alles hing vom Geld ab. Und Geld verdiente man, wenn man Schiffe ausrüsten und in die Häfen von Byzanz und Alexandria, an die Küsten Frankreichs, Spaniens, Englands, Portugals, Nordafrikas und Kleinasiens entsenden konnte. Besonders der Handel mit den Waren aus dem Nahen und Fernen Osten brachte hohen Gewinn.

Pietro Boccos Augen glühten, wenn er daran dachte, wie Kaufmannsfamilien, vor Jahren noch unbedeutend, zu Reichtum gekommen waren. Mit dem Reichtum waren sie auch zu großem politischem Einfluß gelangt, waren entweder Mitglieder des Senats geworden oder hatten einträgliche Stellen als Gesandte an den fremden Höfen erhalten. Und er war auf dem besten Wege gewesen, einen ähnlichen Aufstieg zu nehmen, bis das mißglückte Handelsunternehmen seine ehrgeizigen Pläne durchkreuzt hatte.

Der Mann trat zurück und schloß das Fenster. Er wußte, daß er vor diesen Gedanken keine Ruhe finden würde. Sie zwangen ihn, immer und immer wieder daran zu denken, daß es nur diese einzige Möglichkeit für ihn gab, schnell zu Geld zu kommen.

Da hörte er draußen Schritte. Es klopfte; zögernd trat der Schreiber Luigi Farino ein und verbeugte sich. «Da bin ich, Herr! Was wünscht Ihr?»

Pietro Bocco hatte sich in seinem Sessel aufgerichtet. Durchdringend sah er den Schreiber an. Aber Luigi war keiner, dem man Furcht einflößen konnte. Es war bekannt, daß ihn nichts aus der Fassung brachte. In seinem unbewegten Gesicht war nie abzulesen, ob er Schmerz oder Freude, feige Angst oder zornigen Mut spürte. Er hatte Pietro Bocco und anderen Herren mehrmals vertrauliche Dienste geleistet. Man wußte seine Verschwiegenheit und kalte Ruhe zu schätzen.

«Setz dich, Luigi!» Der Patrone wies auf den Stuhl vor seinem Tisch. Er versuchte dem kalten Glanz in seinen Augen einen freundlichen Schimmer zu geben. Einen winzigen Augenblick dachte er sogar daran, von seinem Vorhaben abzusehen. Luigis glatte, unbeteiligte Miene behagte ihm nicht.

Aber er befreite, sich schnell von diesem flüchtigen Gedanken und sagte plötzlich: «Ein Knabe muß verschwinden, Luigi!»

Der Schreiber blickte den Patrone unverwandt an. Sein Gesicht sah aus, als hätte ihm einer «Buon giorno» gewünscht.

Ein unangenehmer Bursche, dachte Pietro Bocco. Aber ich brauche ihn. Laut sagte er: «Na, Luigi?» «Das kommt darauf an, Herr, wieviel…»

Pietro Bocco winkte ärgerlich ab. «Du weißt, daß ich für gute Dienste gutes Geld zahle!»

«Verschwinden soll der Knabe, Herr?» fragte Luigi. «Wie soll ich das verstehen?»

«Ganz einfach», erwiderte der Patrone mit harter Stimme, «er darf nie wieder in Venedig oder dort, wo Venezianer Einfluß haben, auftauchen!»

«Jawohl, Herr!»

Pietro Boccos schmales Gesicht mit den zusammengekniffenen Lippen und der edlen Stirn sah düster und entschlossen aus. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Er zog seine Geldbörse heraus und zählte fünfundzwanzig Dukaten auf den Tisch. «Die anderen fünfundzwanzig bekommst du, wenn du meinen Auftrag erfüllt hast.»

Er beugte sich über den Tisch und nannte leise den Namen des Knaben.

Luigi strich gleichmütig das Geld ein und schlurfte hinaus.

GIANNINA

DAS DUNKLE, ZIERLICHE MÄDCHEN WOHNTE MIT seinen Eltern in einem Holzhaus, zu dem ein kleiner Garten gehörte. Es kam nicht oft vor, daß sie einen ganzen Nachmittag frei hatte, zu Hause gab es viel zu tun. Der Vater war Meister in der Glashütte und arbeitete bis zum Abend. Daheim saß er grübelnd am Tisch und legte Proben von Spiegelglas vor sich hin, prüfte sie im Dämmerlicht und Kerzenschein, sah viele Male hinein und ließ die Gegenstände des Zimmers oder der Natur sich widerspiegeln. Er sann darüber nach, wie man die begehrten Spiegel von Murano, die selbst der byzantinische Kaiser lobte, noch schöner und vollkommener herstellen könne.

Gianninas Vater betrachtete die einzelnen Spiegelarten, die ein anderer kaum voneinander unterscheiden konnte, mit geübten Augen. Für ihn hatte jeder Spiegel eine Seele. Der eine war lügnerisch und falsch, der andere offen und wahrheitsliebend, der dritte hoffärtig und kalt wie ein verwöhnter Fürstensohn. Sie waren vor allem durch die Art und Weise, wie sie die Linien und Farben des Gesichtes wiedergaben, voneinander verschieden. Der eine lobte und schmeichelte, der andere zeigte unbestechlich jede Runzel, der dritte schimmerte in äußerer Pracht, nahm aber jede menschliche Wärme weg.

Gianninas Vater wollte einen Spiegel schaffen, der nicht nur das Äußere des menschlichen Antlitzes, sondern auch das, was das Leben hineingeschrieben hatte, wiedergab. Er war von Natur ein stiller, versonnener Mann, der nur wenig Worte machte. So lebte er neben seiner Tochter Giannina dahin und wußte nichts von ihr. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, einem Spiegel menschliches Gefühl einzuhauchen, und vergaß darüber die nächsten Menschen, die mit ihm lebten.

Vielleicht war das der Grund für die Gefühllosigkeit und den Krämergeist von Gianninas Mutter. Sie war früher anders gewesen. Möglich auch, daß die Umgebung im Kloster sie böse gemacht hatte. Wenn sie von ihrer Arbeit aus dem Kloster oder von einem ihrer geheimnisvollen Botengänge in das vornehme Rialtoviertel am Canal Grande nach Hause kam, fand sie für die Tochter kein gutes Wort. Sie suchte nach einem Vorwand, um mit ihr schimpfen zu können; und wenn sie schlecht gelaunt war, schlug sie das Mädchen. Häufig drohte sie, Giannina als Magd zu vermieten. Sie verlangte von ihrem Mann schon seit einem Jahr, daß er seine Zustimmung gäbe. Aber er hatte sich bis jetzt geweigert.

Giannina war nun zwölf Jahre alt geworden. Das freudlose Vaterhaus hatte ihr die kindliche Lust am Leben nicht nehmen können. Sie war temperamentvoll und übermütig, wenn sie mit den Freunden durch die Insel streifte. Und Giovanni, der im Nachbarhaus wohnte, hörte sie zu Hause bei der Arbeit singen. Es klang wie Vogelgezwitscher. Nachts aber, wenn sie auf ihrem Bett lag und vor den vielen ungeklärten Fragen, die sich vor ihr auftaten, nicht schlafen konnte, begann sie manchmal ohne einen besonderen Grund zu weinen. So war das Leben. Licht und Dunkel wohnten nebeneinander. Einmal bist du traurig, Giannina, dann lachst du wieder! Das kleine Menschenherz hat für alles Platz, was es auf der Welt gibt, für Sonne und Schatten, Gold und Bertlerlumpen.