Die beiden Räuber, die Paolo niedergeschlagen hatte, waren wieder guter Dinge. Der eine trug an der Stirn mit Stolz eine riesige Beule zur Schau.
Paolos Hände waren gefesselt. Man hatte ihm einen Strick um den Hals gelegt, dessen Ende sich in der Hand eines Reiters befand, so daß Paolo gezwungen war, wollte er nicht erdrosselt werden, schnell neben dem Pferd herzulaufen. Zum Glück war die Strecke des Weges, die sie im Galopp auf der Straße zurücklegten, nicht weiter als tausend Schritt. Sie bogen in einen Seitenweg ein, der zum Fuß einer steilen Anhöhe führte. Angiolino ließ Paolo die Fesseln abnehmen. Milchgesicht ging dicht an ihm vorbei. «Oben wirst du gehängt!» flüsterte er ihm zu.
Paolo überlegte, ob er den blutdürstigen Milchbart niederschlagen und einen Fluchtversuch unternehmen solle, sagte sich aber, daß das keinen Sinn habe. So beschloß er, abzuwarten, was der Anführer von ihm wollte, der einen guten Eindruck auf ihn gemacht hatte.
Sie stiegen einen schmalen; steinigen Pfad hinan, zogen die Pferde an den Zügeln hinter sich her, hielten sich dicht an die Felsenmauer, stiegen höher und immer höher. Links klaffte ein Abgrund. Der Pfad war an manchen Stellen nicht breiter als fünf Fuß; Steine, die sich unter den Tritten der Menschen und Pferde lösten, fielen in die Tiefe.
Unter ihnen lagen die grauen Häuser eines Dorfes, das wie das Nest eines Raubvogels in die Felsnischen gebaut war. Blickte man zurück, sah man die gewundene Linie der Straße, einen schimmernden Flußlauf und den Waldstreifen.
Der Mulipfad führte in das Felsgewirr und entzog die Schar den Augen neugieriger Beobachter. Lediglich vom Dorf aus waren sie noch zu sehen. Kamen aber die Schergen in dieses Dorf und fragten, ob die Bauern die Straßenräuber gesehen hätten, zuckten diese mit den Achseln. Angiolino nahm den Reichen und gab den Armen. Man nannte ihn «König der Felder», weil er stärker und schlauer war als die Herren, denen die Äcker, Wiesen, Gewässer und die armen Landleute gehörten.
Paolo wischte sich den Schweiß von der Stirn. Leb wohl, Venedig, dachte er, lebt wohl, Dimitro und Giulia, lebt wohl, Giovanni, Giannina und Marco. Ein Schritt nach links und ich falle tausend Fuß tief in den Abgrund. Er war es nicht gewöhnt, auf solchen halsbrecherischen Wegen zu gehen. Venedig war weit und eben und wurde nachts von den Wassern der Lagune in den Schlaf gewiegt.
Der Weg stieg jetzt so steil bergan, daß Paolo auf allen vieren kriechen mußte. Vom Dorf her sah es aus, als krochen seltsame Insekten eine Wand empor. Die Pferde setzten vorsichtig ihre Füße und hielten die Köpfe geneigt, daß die Mähnen fast den Boden berührten. Schimpfworte schallten durch die klare Luft, wenn die Hufe auf den Steinen ausrutschten.
Endlich hatte Paolo die letzte steile Strecke überwunden; er blieb einen Augenblick stehen, Wind zauste an seinem Haar und zerrte an den Kleidern. Ein rechteckiges weites Plateau, spärlich mit Gras und kniehohem Gebüsch bewachsen, bot sich seinen Blicken dar. Kalt war es hier oben. Paolo bemerkte zu seinem Erstaunen eine ganze Anzahl Häuser, die vor Jahrtausenden aus Felssteinen erbaut worden waren und bisher jedem Sturm getrotzt hatten. Der Ackerbau hatte sich nicht mehr gelohnt auf dieser winddurchwehten ebenen Fläche; aus diesem Grunde waren die Häuser seit über hundert Jahren unbewohnt, bis Angiolino mit seiner Truppe hier eingezogen war.
Nur der eine Pfad führte zu dem Schlupfwinkel. Zwei Männer konnten ihn verteidigen, falls die Schergen einmal wagen sollten, sie anzugreifen. Nahrungsmittel lagen genügend bereit. Im Notfall konnte die Truppe eine zweijährige Belagerung aushalten. Auch Wasser war vorhanden. Ein Bach, von einer Quelle gespeist, endete am Rand des Felsens in einem Wasserfall, der brausend in die Tiefe stürzte.
Neben einem Haus brannte ein Feuer; zwei Männer brieten eine Ochsenkeule am Spieß. Ein Teil der Truppe blieb bei jedem Unternehmen zu Hause, um die notwendigen Arbeiten zu verrichten und von den Bauern der Umgebung Proviant einzukaufen. Sie zahlten gut, und die Bauern gaben ihnen gern von ihren Erzeugnissen ab.
Paolo vergaß beinahe, daß er als Gefangener herumlief. Er beobachtete mit regem Interesse, was hier oben geschah. Ganz unvermutet hatte sich seinen Blicken dieses seltsame Treiben auf dem Plateau, das den Himmel als Dach und die zerklüfteten Felsen zu Wächtern hatte, dargetan, eine kleine Welt für sich, in der andere Gesetze galten als einige tausend Fuß tiefer.
Hier gab es keine Herren und keine Knechte. Angiolino war der gewählte Anführer, und wenn wichtige Entscheidungen zu treffen waren, rief er alle zusammen und beriet sich mit ihnen. Die Truppe bestand in ihrer Mehrheit aus armen Bauern, die ihren Herren davongelaufen waren, weil sie die Bedrückung nicht mehr ertragen wollten, oder aus Abenteuerlust an dem wilden, freien Leben, das sie in den Bergen zu finden glaubten. Es gab auch Raufbolde unter ihnen, der übelste war Milchgesicht, Sohn eines heruntergekommenen Grafen aus Kalabrien. Er war vor Jahren von Hause weggelaufen, weil man ihn wegen eines Totschlages zur Rechenschaft ziehen wollte. Angiolino war bestrebt, einen nach dem anderen von diesen Gesellen zu entfernen.
Der Kern der Truppe war gut und unterstützte des Anführers Gerechtigkeitssinn.
Die Reiter hatten ihre Pferde versorgt, blieben in Gruppen stehen und unterhielten sich über den geglückten Überfall oder gingen in die Häuser hinein. Paolo, statt über einen Fluchtweg nachzudenken, stand noch immer im Banne des Lebens auf dem Plateau, das sich gleichsam auf einer riesigen steinernen Handfläche, die in den Himmel hineingestreckt war, abspielte. Es hätte auch keinen Zweck gehabt, einen Fluchtversuch zu unternehmen. Stand man am Rand der Hochfläche, fielen die Felswände so steil bergab, daß jeder Abstieg den sicheren Tod bedeutete. Und der Mulipfad war bewacht, keine Maus könnte ungesehen vorbeischlüpfen.
Paolo hatte nicht länger Gelegenheit zum Schauen und Überlegen. Ein junger Bursche, schlank, mit einem sommersprossigen Gesicht und rötlichem Haar, näherte sich.
«Komm, Fremder, ich muß dich einsperren», sagte er, nicht unfreundlich, wie es Paolo schien.
«Was habt ihr mit mir vor?» fragte Paolo.
«Wenn es nach Milchgesicht geht, wirst du aufgehängt.» Der Sommersprossige warf dem Gefangenen einen schnellen, prüfenden Blick zu.
Paolo erwiderte nichts. Im Augenblick war ihm alles gleichgültig. Hunger hatte er, seit Tagen hatte er nichts Vernünftiges gegessen. Sie gingen an dem Feuer vorbei, der Duft des gerösteten Ochsenfleisches stieg ihm in die Nase. «Ich hätte nichts dagegen, vor dem Aufhängen noch ein Stück Ochsenfleisch zu essen», sagte er.
Der Sommersprossige lachte auf. «Komm nur», sagte er, «das Haus da drüben ist es.»
Er schob einen großen rostigen Riegel zurück und öffnete die Tür.
Paolo ging hinein. Die Tür wurde wieder verriegelt. Er befand sich in einem größeren Raum, der früher wohl als Stall für zwei Pferde gedient hatte. Durch ein schmales, scheibenloses Fenster in der rechten oberen Ecke fiel Licht herein. Es genügte gerade, um die wenigen Einrichtungsgegenstände erkennen zu lassen: eine Bank, ein Krug, zwei Futterkrippen, eine Schütte Stroh, umgeben von nacktem Felsgestein.
Paolo tastete die kühlen Wände ab, setzte sich dann auf das Stroh. Er war müde nach dem wilden Lauf mit dem Strick um den Hals und der anstrengenden Kletterpartie. Durch die Tür hörte er fröhliche Zurufe, das Wiehern eines Pferdes und die Wortfetzen eines Gespräches, versuchte aber nicht, den Sinn der Worte zu erraten. Warum auch? Draußen schien die Sonne, wehte der Wind. Und wenn es nach Milchgesicht ginge, würde er heute abend aufgehängt werden.