Er saß eine Weile und wunderte sich, daß er den kommenden Ereignissen ohne sonderliche Gefühlsregungen entgegensah. Er vermutete nach allem, was er unterwegs gehört hatte, daß er sich in der Gewalt des Mannes befand, dem man Gerechtigkeit und Liebe zu den Geringen nachsagte. Wenn es so war, konnte er dem Abend guten Mutes entgegensehen.
Bevor er noch weitere Überlegungen anstellen konnte, wurde wieder der Riegel zurückgeschoben und die Tür geöffnet. Der Sommersprossige brachte ihm ein Stück Ochsenfleisch, einen Kanten Weißbrot und einen Krug mit frischem Wasser.
«Sollst nicht hungern bei uns», sagte er, «brauchst auch nicht ängstlich zu sein. Milchgesicht hat nichts mehr zu bestimmen. Iß nur!»
Das waren gute Worte für Paolo. Der Sommersprossige gefiel ihm. Das Stück Ochsenfleisch war groß genug, um ihn für Tage mit Fleisch zu sättigen. Nachdem er gegessen hatte, legte er sich auf das Stroh, erfreute sich an dem Sonnenstreifen, der den Raum durchschnitt, und schlief schließlich ein.
Am Abend versammelte sich die Truppe, etwa hundertzwanzig Köpfe, um ein Feuer, das windgeschützt in einer Erdmulde brannte. Im weiten Rund saßen die Männer auf der Erde und warteten auf den Gefangenen.
Angiolino saß im Kreis seiner Zehnerschaftsführer und blickte düster in die Hammen. Er hatte vor einer Stunde mit Milchgesicht, der bereits wieder nach Wein roch, eine heftige Auseinandersetzung gehabt und einige Unverschämtheiten des Angetrunkenen schweigend eingesteckt. Es war höchste Zeit, daß er den Raufbold und Mörder mit seinen Spießgesellen aus der Truppe entfernte.
Die Nacht war sternenklar, Über die ebene Fläche mit den wenigen Vertiefungen pfiff der ewige Wind und trug die Rauchwolken mit sich fort. Die Schatten der gezackten Berge wuchsen drohend in den nächtlichen Himmel. Die Gesichter der Männer, weiße und braune, junge und alte, waren vom rötlichen Feuerschein getönt, viele Augenpaare beobachteten erwartungsvoll, wie der Gefangene vor Angiolino gebracht wurde.
Paolo überflog die schweigende Versammlung, sah hinter den auf dem Boden sitzenden Männern die eingezäunte Koppel mit den weidenden oder ruhenden Pferden, hörte das Heulen des Windes, das Brausen des Wasserfalles und glaubte einen flüchtigen Augenblick lang, die heimatliche Nähe des Meeres zu spüren. «Kennst du mich?» fragte Angiolino.
Paolo verneinte.
Das Feuer lohte auf, spiegelte sich hundertfach in den funkelnden Augen, die wie die Lichter von Raubtieren auf den großen, breitschultrigen Mann gerichtet waren.
«Man nennt mich den König der Felder», sagte Angiolino stolz. «Wir nehmen den Reichen und geben den Armen. Hast du von uns gehört?»
«Ich habe von Euch gehört.»
«Und du Narr hast den dicken Bischof verteidigt?» fuhr Angiolino ihn an. «Weißt du nicht, daß er die dreitausend Unzen, die er bei sich führte, aus seinen Bauern herausgeschunden hat?»
«Als ich den Bischof verteidigte, wußte ich noch nicht, wer Ihr seid.» Paolo sprach ohne Furcht.
«Er lügt!» schrie Milchgesicht dazwischen. «Hängt ihn auf!»
«Halt dein Maul!» Angiolinos Stimme klang hart und entschlossen. Milchgesicht knirschte wütend mit den Zähnen. Die Männer schwiegen.
Angiolino, äußerlich vollkommen beherrscht, wandte sich wieder an den Gefangenen: «Erzähl, wer du bist und woher du kommst. Sprich laut, daß alle es hören!»
Paolo senkte den Kopf. Er sollte erzählen, wer er war. Die Hammen zogen seine Blicke auf geheimnisvolle Weise an. Und ringsum die Gesichter mit den geschwungenen Kerben der Münder, den hohen und niederen Stirnen, die um die Knie gefalteten Hände, das gespannte Schweigen! Es war ihm, als müsse er jedem einzelnen Rechenschaft geben, warum er den Bischof verteidigt hatte. Vor ihm saß eine Schar von Richtern, sie trugen keine kostbaren Roben, schauten nicht hochmütig auf ihn herab. Sie saßen auf der Erde und wollten wissen, wer er war.
Angiolino hatte die Gabe, nicht ungeduldig zu werden, wenn die Zeit verrann, während der andere nachdachte. Einmal nur war er ungeduldig geworden, als man ihm für einen krepierten Esel seine kümmerliche Habe nahm.
Wer bist du, und woher kommst du? Eine einfache Frage für Paolo, von der es abhing, ob er weiterleben oder gehängt werden würde. Er wollte nicht gehängt werden.
Ein Diener war ich, ein Schmuggler wurde ich, weil Messer Pietro Bocco es befahl, ein Landstreicher bin ich. Das ist die Wahrheit. So würde er antworten.
Der eine, der dicht am Feuer saß, hatte eine Beule an der Stirn von Paolos Faust. Aber er sah genauso ruhig und erwartungsvoll auf den Gefangenen wie die anderen. «Erzähle!» forderte Angiolino noch einmal.
«Hängt ihn doch auf, den Hund!» schrie Milchgesicht. Was er sagte, war weniger gegen den Gefangenen gerichtet. Angiolino wußte das. Ein drohendes Gemurmel ertönte.
Angiolino sprang auf und schlug dem Überraschten mit der Faust vor die Stirn.
«Du Bauernlümmel!» brüllte Milchgesicht. Er taumelte zurück und zog das Schwert. «Jetzt ist es aus mit dir!»
«Weg mit ihm!» befahl Angiolino.
Fünf stürzten vor, überwältigten den wütend um sich Schlagenden. Das Schwert fiel klirrend auf die Steine.
Sie brachten ihn zum Rand des Felsens, dort, wo der Wasserfall in die Tiefe stürzte.
Ein gellender Schrei übertönte das Heulen des Windes.
Die Spießgesellen Milchgesichts, fünf oder sechs unter den Hundertzwanzig, senkten ihre Gesichter. Die anderen atmeten auf, von einem Alpdruck befreit. Einmal hatte es so kommen müssen. Angiolino hatte lange zugesehen, sehr lange…
Die fünf Männer kamen zurück und setzten sich auf ihre Plätze. «Nun sprich 1» forderte Angiolino den Gefangenen auf.
Paolo war es, als erwache er aus einem Traum. Er bezwang sich, das Unbegreifliche, was er soeben erlebt hatte, zu vergessen.
Und er erzählte seine Geschichte. Keiner unterbrach ihn. Die Ohren hörten die Worte, und die Herzen verstanden sie. Noch nie hatte Paolo von seinem Leben erzählt. Noch nie hatte jemand gefragt: Wer bist du? Jetzt aber, im wärmenden Schein des nächtlichen Feuers, kamen die Worte von selbst über seine Lippen.
Angiolinos düsteres Gesicht hellte sich auf.
«Bei mir war es ein Esel», sagte er, als Paolo geendet hatte. «Bei dir waren es fünfzehn Säcke Salz. Es kommt auf das gleiche hinaus. Immer kommt es auf das gleiche hinaus.»
Die anderen nickten stumm und sahen gedankenvoll ins Feuer.
IM FRÜHLING DES JAHRES 1269
EINMAL IN DEM VERGANGENEN WINTER HATTE der Wind dicke Schneeflocken auf Dächer, Brücken und Purpurmäntel geweht, und die fünf Kuppeln der Kirche von San Marco waren einen halben Tag lang mit weißem Schnee bedeckt gewesen.
Das Holzgeschäft der Obsthändler, die auf Anordnung der Proveditori für den Holzhandel Büschel und anderes kleines Holz in ihren Schuppen lagerten, hatte wie in jedem Jahr einen guten Nebenverdienst gebracht. Selbst die Bettler und Obdachlosen hatten für ihre Bettlerpfennige dürre Zweige gekauft, um auf freien Plätzen, neben Brücken, hinter den Kirchen und auf den Steinen der Anlegekais Feuer anmachen zu können. Holzbarken waren aus Istrien und Dalmatien gekommen, hatten bei den Proveditori die Ladung abschätzen lassen und die Zollgebühren entrichtet.
Auch Messer Pietro Bocco hatte sich am Holzhandel mit gutem Erfolg beteiligt.
Die Wintermonate, angefüllt mit den Festlichkeiten des Karnevals, waren schnell vorübergegangen.
Nun trat der Frühling seine Herrschaft an, säumte die Kanäle und Wasserläufe mit zartem Grün, ließ die Blätter und Blüten an Bäumen und Sträuchern hervorbrechen und fegte die Wolken von dem hochgespannten Himmelsgewölbe.
Am Rialto hatte das geschäftige Leben auch im Winter keinen Augenblick geruht, jetzt aber begann die Zeit der Vorbereitungen für die großen Reisen.