Schön waren die Stunden mit Giovanni und Marco gewesen. Acht Tage waren vergangen. Giannina freute sich schon auf die nächste Zusammenkunft. Aber Marco hatte Bescheid geben lassen, daß er erst Ende der nächsten Woche kommen könne. Also mußte sie noch zehn Tage warten.
An einem Abend nun kam die Mutter früher nach Hause; sie war kaum ins Haus getreten, als sie schon mit freundlicher Stimme nach Giannina rief, die im Garten Aprikosen pflückte.
«Komm, meine Tochter, stelle den Korb in die Ecke und setz dich! Ich will dir etwas sagen.»
Verwundert sah Giannina ihre Mutter an. Was war geschehen? Hatte die Mutter einen besonders reichlichen Botenlohn erhalten, daß sie so guter Laune war? Der Vater war noch nicht zu Hause. Da standen die Aprikosen neben der Truhe und sahen aus wie kleine goldene Bälle. Ihr lieblicher Duft erfüllte das Zimmer. Die Mutter suchte nach Worten. Oder kam es Giannina nur so vor? Auf einmal hatte sie das Gefühl, daß sie etwas Unangenehmes erfahren werde, etwas, das sie schon lange mit heimlicher Furcht erwartete.
«Ich war beim Messer Celsi, meine Tochter. Eben komme ich vom Messer Celsi. Ein feiner, großzügiger Herr! Sieh, er hat mir gleich fünf Zechinen Angeld gegeben.»
Die Mutter legte die Geldstücke auf den Tisch und betrachtete sie mit gierigen Augen.
«Ein feiner, großzügiger Herr», wiederholte sie noch einmal leise. «Du wirst zu ihm als Magd gehen!» sagte sie plötzlich mit veränderter Stimme. «Kriegst ein feines Kleid, mein Töchterchen, der Messer Celsi meint es gut mit dir. Freust du dich gar nicht? Undankbare du! Deine Mutter rennt von früh bis spät, um dich zu versorgen, und du sitzt da wie ein Steinklotz. Kannst du nicht reden?»
Gianninas Mutter bewegte sich emsig in der Stube hin und her und vermied es, die Tochter anzusehen.
Das Mädchen saß auf dem Stuhl und rührte sich nicht. Eben hatte sie noch Aprikosen gepflückt und war froh gewesen, weil die Sonne schien, weil der Wind in den Bäumen rauschte und alles im Garten so kräftig gedieh. Das Haus, der Garten, die vielen Spiegelglasproben, die überall in den Zimmern herumlagen, Giovannis Gesang im Nachbargarten, die glücklichen Stunden mit den Freunden — das würde bald nur eine schöne Erinnerung sein.
«O Mama mia!» schluchzte das Mädchen. «Wißt Ihr nicht, daß Messer Celsi seine Mägde schlägt? Messer Celsi ist ein böser Mann. Alle wissen es, Mama!»
«Red nicht solchen Unsinn, Mädchen!» sagte die Mutter böse. «Messer Celsi ist ab morgen dein Dienstherr. Hüte dich, ihm Schlechtes nachzusagen.»
Als der Vater nach Hause kam, gab es eine Auseinandersetzung zwischen ihm und seiner Frau. Aber die währte nur kurze Zeit, die Frau setzte ihren Willen durch.
Er hatte einen Spiegel mitgebracht, der von zauberhafter Schönheit war, und glaubte, bald am Ziel seiner Wünsche zu sein. Mit einem besonderen Schleifverfahren wollte er ihm den feinen Schmelz verleihen, der nötig war, um die zartesten Farben und Schattierungen widerspiegeln zu können.
«Einmal muß das Mädchen mit dem Arbeiten anfangen, je früher, desto besser. Der Messer Celsi interessiert sich wirklich sehr für sie. Ein feiner, großzügiger Herr. Ach, da stehen ja noch die Aprikosen. Iß, Pietro, iß!»
«Wo ist sie?» unterbrach er den Redeschwall seiner Frau. «Wo soll sie sein? Drüben, beim Giovanni, die faule Dirne.»
«Hol sie!»
Gianninas Mutter horchte auf. Das klang wie ein Befehl. Schon lange hatte sie diesen Ton von Pietro nicht gehört. Sie lief in den Garten und rief ihre Tochter. «Giannina, Giannina, wo bist du denn? Komm schnell, der Vater will dich sprechen.»
«Sie kommt ja schon, Nachbarin!» Das gutmütige Gesicht des Steinbauers Ernesto tauchte über der grünen Hecke auf, die die beiden Gärten trennte. «Treibt's nicht gar zu arg mit ihr, Elena!» sagte er ernst.
«Kümmert Euch um Eure Sachen!» erwiderte Gianninas Mutter spitz. «Sie hockt mir viel zu oft bei Giovanni drüben. Ihr solltet besser darauf achten, Ernesto.»
Giannina kroch durch die Hecke und kam zu ihrer Mutter. Sie hatte die Tränen abgetrocknet; alles war so schnell geschehen, daß sie es noch gar nicht richtig fassen konnte.
Der Vater erwartete sie mit ruhigem Gesicht und sah sie prüfend mit seinen versonnenen Augen an.
«Du hast geweint, Nini? Aber das ist doch alles nicht so schlimm. Einmal muß man von seiner Kindheit Abschied nehmen.»
Giannina umarmte ihren Vater und weinte zum Herzerbarmen. Er legte den Arm um sie und zog sie fest an sich. «Nicht weinen, Nini, nicht weinen!»
Als sie sich ein wenig beruhigt hatte, erzählte er ihr von seiner eigenen Kindheit. «Ich mußte in die Glashütte gehen, als ich zehn Jahre alt war. Schwer war die Arbeit, kleine Nini. Aber du weißt, deine Großeltern waren arme Fischersleute, da kam es auf jeden Soldo an. Der arme Mensch muß sich sein Brot schwer verdienen. So ist das nun einmal. Du bist doch schon ein großes Mädchen, zwölf Jahre alt, und schön wie eine Rose. Hier, schau dich in diesem Spiegel an! Na, was sagst du dazu?» Giannina mußte gegen ihren Willen lachen, als sie ihr verweintes Gesicht im Spiegel sah.
«Da lacht sie schon wieder, Elena», sagte Pietro zu seiner Frau. Die Mutter spürte, wie ihr das Herz warm wurde. «Du mit deinen Spiegeln», sagte sie und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, «hast deine ganze Seele an die kalten Spiegel verschenkt.» Und zu Giannina: «Kannst ja immer noch deinen Giovanni besuchen, wenn du frei hast! Damit ich's nicht vergesse, die Küchenkräuter…» Sie eilte in den Garten hinaus. den Garten hinaus.
«Die Mama meint es nicht schlecht mit dir, Nini. Es wird schon alles gut werden.»
Giannina hielt noch immer den Spiegel in der Hand. «Fein ist er, Papa. Wie das Quellwasser, wenn die Sonne daraufscheint.»
Der Vater erhob sich und zündete eine Kerze an. «Jetzt geh ganz dicht heran mit deinem Gesicht und beobachte die Farben in deinen Augen!»
Giannina betrachtete sie und sagte verwundert: «Große Augen habe ich, Papa. Sie sehen mich wie fremde Augen an. Dunkel sind sie, und die Kerze steht darin, ganz klein, und Euer Gesicht. Aber die Farben kann ich nicht unterscheiden. Alles ist so dunkel, Papa. Wenn die Sonne schiene!»
«Man muß die Farben auch beim Kerzenschein genau erkennen können», erwiderte der Vater.
Er war mit den Gedanken schon wieder ganz bei seiner Arbeit.
Messer Celsi war groß und sehr hager. Eine pechschwarze Haarsträhne fiel ihm in die Stirn; er hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, sie alle Augenblicke zurückzustreichen, so daß man sich wundern mußte, daß er daneben noch Zeit fand, seine umfangreichen Geschäfte zu tätigen.
Er besaß Viehweiden mit gutgenährten Schafen, Kühen und Ochsen, auf seinen Äckern reifte der goldene Weizen, in den Gärten wurde Gemüse geerntet und jeden Morgen auf Kähnen nach den Gemüsemärkten am Marcusplatz oder an der Ponte della moneta geschafft.
Messer Celsi herrschte über eine Schar von Knechten und Mägden. Er war ein gestrenger Herr, der seine Nase in alles steckte und die Mägde prügelte, wenn es ihm in den Sinn kam. Neben seinem Land und einem aus teuren Ziegeln auf einem Fundament lebendiger Steine erbauten Haus gehörte ihm eine Glashütte, in der Fenster- und Spiegelglas hergestellt wurde.
Seine beiden Töchter, Giulietta und Angela, waren dick und schön und lebten in ständiger Sorge, daß sie noch dicker werden würden.
Messer Celsi ging jeden Morgen zur Kirche und hatte schon viele Kerzen zu Ehren der Heiligen gestiftet.
Es war ein ergötzliches Bild, wenn die Eheleute, gekleidet wie venezianische Patrizier, in einer Kutsche zur Kirche fuhren: er, aufgerichtet und steif wie ein Stock, die Signora rund und klein, mit einem Doppelkinn, das bis auf die Perlenkette hing.
Eigentlich war es erstaunlich, daß Messer Celsi bei seiner üppigen Lebensweise so hager blieb. Er aß gern fette Kapaune und trank dazu französische, griechische oder spanische Weine. Der Kapaun mußte auf eine besondere Art zubereitet sein, knusprig am Spieß gebraten, das Innere mit Zwiebeln und allerlei würzigen Kräutern gefüllt. Und die Federn am Kopfe durften weder ausgerupft noch versengt sein.