Marino saß vor ihm und schwieg, aber dieses Schweigen störte Marco nicht. Er wußte ja, daß der Matrose nicht viel Worte machte; versprach er aber etwas, konnte man sich fest auf ihn verlassen. Marco entdeckte an dem Matrosen manche Züge, die ihn an Paolo erinnerten. So hatte sich zwischen ihnen eine stille Kameradschaft gebildet, die beide zu schätzen wußten. Von Paolo hatte der Knabe nie wieder etwas gehört, obwohl er in seinen Bemühungen, etwas zu erfahren, nicht nachgelassen hatte. Er war noch zweimal bei Kapitän Matteo gewesen, aber auch dieser hatte ihm keine gute und keine schlechte Kunde geben können, so daß alles in ein geheimnisvolles Dunkel gehüllt blieb, das, je nach der Stimmung, die verschiedenartigsten Deutungen, einmal traurig, einmal voll Hoffnung, hervorrief.
Marco hatte auch, so schwer es ihm fiel, sein Verhalten Pietro Bocco gegenüber geändert, so daß dieser den Diener, den er als Aufpasser in Marcos Haus geschickt hatte, nach einiger Zeit wieder zurückrief.
Marino trank aus seinem Glas und setzte es auf die Tischplatte. «Noch drei Wochen», sagte er.
Ein Schwärm Gäste kam zur Tür herein und setzte sich an die leeren Tische. Es ging auf die Mittagszeit zu.
Noch drei Wochen, dachte Marco. Wie war das eigentlich mit Giovanni? Er hatte ihn nicht wieder gesehen. Oft hatte er an ihn gedacht. Eine echte Freundschaft, wie sie zwischen ihnen bestanden hatte, konnte man nicht einfach mit einer Handbewegung beiseiteschieben. Eigentlich war es doch eine unbedeutende Sache gewesen, über die er sich so aufgeregt hatte. Ein zurückgeschicktes Kleiderbündel! Deshalb hatte er Giannina und Giovanni beschuldigt, mit seinem Oheim unter einer Decke zu stecken. Aber es war damals so vieles zusammengetroffen: das Verschwinden Paolos, die Drohungen des Oheims und einiges andere, über das es sich nicht mehr lohnte, nachzudenken.
Die Rufe und Gespräche, die in der Gaststube laut wurden, das ruhige, von der Seereise und den fremden Häfen träumende Gesicht Marinos, die Gewißheit, daß die Reise in drei Wochen beginnen würde, und die Ungewißheit, ob auch alles gut gehen werde, weckten in Marco den Wunsch, mit einem vertrauten Menschen über das zu reden, was ihn bewegte. Es war leichter, den kommenden Ereignissen in die Augen zu schauen, wenn jemand da war, der einen verstand, dem man ohne Scheu von seinen Vorstellungen und Wünschen erzählen konnte, der einfach neben einem saß und zuhörte, mit dem Kopf nickte oder hier und da einen Satz einwarf, der half, die ferne Welt mit den bunten Farben der Erwartung und Sehnsucht auszuschmücken.
An einem Vormittag ging Giovanni zu Meister Benedetto und bat ihn um Urlaub.
«Ich möchte gern einmal nach Venedig fahren, Meister», sagte er, «habe da etwas Wichtiges zu erledigen.»
Meister Benedetto legte die Axt aus der Hand und sah ihn prüfend an. «Du hast da etwas Wichtiges zu erledigen? Willstwohl wieder Kapitän Matteo besuchen? Dann geh nur, er freut sich immer, wenn du kommst.» Nach einer Pause setzte er hinzu: «Hast du die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben?»
«Ich glaube nicht, daß Paolo tot ist», erwiderte Giovanni. Er wurde verlegen und zögerte eine Weile, bevor er weitersprach: «Ich will aber nicht zu Kapitän Matteo, es ist etwas anderes…»
«So, so, eine geheimnisvolle Sache also…» Meister Benedetto zog drohend die weißen Brauen zusammen, doch Giovanni kannte ihn, er sah an seinen Augen, daß es nicht böse gemeint war.
«Geh!» befahl Meister Benedetto. «Mach schnell, daß du mir aus den Augen kommst!»
«Ich hole alles nach, Meister», sagte Giovanni.
Er legte seine Schürze ab, packte sein Handwerkszeug zusammen, brachte seinen Arbeitsplatz in Ordnung und eilte nach Hause. Er zog seine neuen Kleider an und machte sich auf den Weg zur Landestelle. Die Lagune lag ruhig, nur von einem leisen Luftzug bewegt, der die Oberfläche kräuselte und in die Segel der Barken und Schiffe griff. Ein Boot brachte Giovanni in zwanzig Minuten nach der Piazzetta. Er achtete nicht auf die vielen Menschen, die den Platz belebten, auch die Bauart der Schiffe, die im Kanal San Marco lagen, interessierten ihn heute nicht. Seine Schritte führten ihn den bekannten Weg. Vor Marcos Hause blieb er stehen.
Was er sich vorgenommen hatte, war nicht so leicht auszuführen. Giannina wußte nichts von seinem Kommen. Lange, lange hatte er nachgedacht und auch mit seinem Vater darüber gesprochen. «Geh nur zu ihm», hatte der Vater gesagt, «wirst ja sehen, wie es mit euch steht, wenn du mit ihm sprichst.»
Es war, als hätte der Frühling die guten Erinnerungen an die gemeinsamen Erlebnisse geweckt. Wenn Giovanni von der Arbeit nach Hause gekommen war, hatte er oft an den Freund gedacht und sich gewünscht, daß sie wieder wie früher zusammenkommen und alles Böse vergessen würden. Der letzte Anstoß zu seinem Besuch aber war Gianninas Mitteilung gewesen, daß Messer Pietro Bocco den Freund in eine Klosterschule stecken wollte. Giovanni konnte sich vorstellen, wie es Marco zumute war.
Da stand er also vor dem Haus und überwand das letzte Zagen. Maria empfing ihn. Giannina sei gerade zum Kräutermarkt gegangen, sagte sie, aber der junge Herr sei da, er würde sich bestimmt sehr freuen, Giovanni solle nur auf sein Zimmer gehen, er wisse ja den Weg. Giovanni war es recht, daß Giannina nicht im Hause war. Er meinte, es sei besser, wenn er sich mit dem Freund zuerst allein ausspräche. Er klopfte an die Tür und ging ohne Zögern hinein. «Buon giorno, Marco», sagte er munter, «ich bin einmal zu dir gekommen.»
Marco sah überrascht auf. Giovanni stand vor ihm. Im ersten Augenblick schien ihm das so selbstverständlich, daß ihm nichts anderes einfiel, als ohne Scheu und Verlegenheit zu sagen: «Du bist es, Giovanni. Setz dich nur hin.» Er schob ihm einen Stuhl zu, auf dem der Freund Platz nahm.
Sie vermieden es, sich anzusehen. Eine Pause entstand; sie spürten beide ehrliche Freude über das Zusammentreffen und gleichzeitig Beschämung, weil sie so lange Zeit nebeneinander gelebt hatten, als hätte es nie eine Freundschaft zwischen ihnen gegeben. Es war notwendig, einige Worte zu sagen, damit das alte, gute Verhältnis wiederhergestellt wurde.
«Wie geht es dir denn, Giovanni?» unterbrach Marco das Schweigen. «Du siehst gut aus, bist ordentlich breit geworden.»
«Das macht die Arbeit. Sieh dir zum Beispiel meine Hände an!» Er streckte Marco seine geöffneten Hände hin. Dieser betrachtete sie fachmännisch, strich mit zwei Fingern über die Hornhaut auf dem Handteller und zog anerkennend die Augenbrauen hoch. Dann sahen sie sich an und lachten befreit auf.
«Da stehen wir nun und sehen uns meine Hände an», sagte Giovanni froh.
«Ich freue mich wirklich, daß du gekommen bist», erwiderte Marco. Sie verbargen ihre Bewegung und ihre tiefe innere Freude hinter alltäglichen Worten.
«Immer wollte ich schon zu dir kommen», begann Giovanni zu erzählen, «ich habe ja zuerst gar nicht gewußt, daß du mir die Kleider geschickt hast. Das war gut von dir gemeint, Marco. Ich verstehe schon, daß du dich geärgert hast, als Giannina sie zurückbrachte. Aber du kennst doch meinen Vater… Heute sagte er zu mir: Geh zu ihm und sprich mit ihm. Da bin ich also hier… Ich habe auch meine Sorgen gehabt. Mein Vater mit seinem einen Bein — jetzt will er fischen gehen…»
«Hat dir Giannina erzählt, was ich in meiner Wut gesagt habe?» fragte Marco. «Sie wird es dir sicher erzählt haben», beantwortete er seine Frage selbst. «Sie war sehr böse darüber… Ich habe das natürlich nicht so gemeint.»
«Giannina hat mir nichts davon erzählt», erwiderte Giovanni, «in seiner Wut sagt man manchmal etwas. Ich kenne das.»
So sprachen sie miteinander und redeten sich vom Herzen herunter, was ihre Freundschaft getrübt hatte. Sie erinnerten sich an die schönen Tage des vergangenen Sommers, als sie im Schilf auf dem Boden des alten Fischerkahns gesessen hatten, als Marco die Geschichte von den kostbaren Diamanten und der schönen, hartherzigen Julia erzählte und Giannina in ihrer schnellen Begeisterung am liebsten auf einem Seeräuberschiff mitgefahren wäre. Sie dachten auch an die sorgenvollen Stunden: wie Marco in der engen Gasse überfallen worden war und Giovanni ihm durch sein mutiges Dazwischentreten das Leben gerettet hatte, wie sie Giannina auf der Landstraße nach Aquileja gesucht hatten… Die gemeinsamen Erlebnisse waren für immer in ihre Herzen geschrieben, und beinahe hätte ein einziger böser Satz, in der Wut gesprochen, die Freundschaft zerstört.