Die Freundschaft war ein kostbarer Schatz, den man hüten und pflegen mußte, damit er seinen Glanz und seine Schönheit nicht verlor.
«Giannina wird sich freuen, wenn sie hört, daß alles wieder wie früher zwischen uns ist», sagte Giovanni.
Marcos Gesicht aber wurde sehr ernst nach diesen Worten. Der Freund bemerkte es. In seiner Freude hätte er beinahe vergessen, daß Messer Pietro Bocco den Neffen in eine Klosterschule bringen wollte.
Der Kastanienbaum im Hof steckte schon seine rötlichen Kerzen an, in den Vorgärten grünte die Erde und bedeckte sich mit den weißen und farbigen Blütenblättern, die von den Bäumen fielen. Selbst durch die Ritzen der Steine sproß das frische Frühlingsgrün. Venedig war wie neugeboren. Mit Grausen dachte Marco an die weltentfernte Stille inmitten des Klosters von San Nicolo. Nackte, tote Steine, Mönche im Kreuzgang, Gebete murmelnd… Und vor den grauen Mauern atmete das Meer, lagen Schiffe im Hafen, handelte Umberto mit antiken Köpfen und kupfernen Schalen, rührte der Nudelmacher im Teig herum, spielten Kinder… Ein junger Mönch wandert einsam über den gelben Sand, entfernt sich immer weiter vom Kloster, bis er kaum noch zu erkennen ist. Neben ihm das Meer, gewaltig und schön. Giovanni saß schweigend auf seinem Stuhl. Die Augen des Freundes waren dunkel geworden, ernst und grüblerisch stand eine Falte über der Nasenwurzel.
«Es ist gut, daß du gekommen bist, Giovanni», sagte Marco. «Schwöre mir, daß du niemandem sagen wirst, was ich dir jetzt erzählen werde.»
«Ich schwöre es!» sagte Giovanni feierlich. «Bei der Heiligen Mutter Gottes.»
Marco ging auf die Truhe zu und öffnete den Deckel. «Komm her!» Er schlug die oben liegenden Kleider zurück. Vor Giovannis erstaunten Blicken lagen zwei Dolche, der kleine Elefant aus Elfenbein, der sonst auf dem Tisch gestanden hatte, ein breites goldenes Armband, eine gefüllte Geldbörse und zwei Säckchen mit Biscotto.
«Ihr müßt dann allein fertig werden, wenn ich nicht mehr da bin», sagte Marco geheimnisvoll. «Es geht nicht anders…»
Giovanni sah ihn fragend an. «Ich verstehe dich nicht. Was hast du vor, Marco?»
«Auch Giannina darf vorher nichts erfahren. Niemand! Nur dir sage ich es. Ich fahre mit einem Schiff nach Damaskus. Wie du siehst, ist alles schon vorbereitet. Das Armband hat der Mutter gehört, auch der kleine Elefant. Ich nehme beides mit. Vielleicht treffe ich meinen Vater. Dann zeige ich es ihm… Du weißt doch, daß ich in eine Klosterschule kommen soll! Daraus wird nun nichts…» Marco nahm einen Dolch heraus und gab ihn dem Freund. «Dieser Dolch ist für dich bestimmt, Giovanni. Nimm ihn. Du hast deinen Dolch Paolo geschenkt, damit er mich beschützen soll; er hat es mir erzählt… Nimm diesen dafür.»
Marco legte vorsichtig die Kleider wieder über die kostbaren Gegenstände und klappte die Truhe zu. Sein ernstes Gesicht hatte sich aufgehellt. Wie erlöst war er, weil er dem Freund sein streng gehütetes Geheimnis mitgeteilt hatte.
«Du willst also weg», sagte Giovanni, den Dolch in der Hand haltend. Er rang mit einem schweren Entschluß. Nach all dem, was zwischen ihnen gewesen war, glaubte er, dem Freund beweisen zu müssen, daß er ganz auf seiner Seite stehe in diesen schweren Stunden.
«Wenn du willst, Marco, gehe ich mit dir!»
Nun hatte er den folgenschweren Satz gesagt, und er ließ sich nicht mehr zurücknehmen. Er wollte ihn ja auch nicht zurücknehmen. Wie konnte er den Freund im Stich lassen? Aber der Vater und Giannina, die Arbeit bei Meister Benedetto? Mit dem Schiffsbau war es dann vorbei. Wir machen Venedig zur Königin, hatte Meister Benedetto gesagt. Was wäre Venedig ohne unsere Schiffe? — Hölzerne Perlen sind sie, merke es dir, sonst wirst du nie ein richtiger Bootsbauer werden. Diese Gedanken gingen Giovanni durch den Kopf.
Marco sah die hellen Augen des Freundes fragend auf sich gerichtet. Er ahnte, daß ihm sein Entschluß nicht leichtgefallen war.
«Du kannst nicht mitfahren, Giovanni», sagte er. «Denke doch an Giannina. Du mußt dich um sie kümmern… Es geht nicht, daß du mitkommst. Marino, der Matrose, hat Mühe, einen auf das Schiff zu schmuggeln…»
Giovanni versuchte ihn zu überreden, nach Murano zu kommen und sich bei ihm einige Zeit verborgen zu halten, aber Marco antwortete, daß Messer Pietro Bocco ihn dort zuerst suchen werde. Nein, es bliebe ihm nichts anderes übrig, als Venedig zu verlassen. Giovanni wisse doch, wenn er sich einmal etwas vorgenommen habe, dann führe er es auch durch.
Marco schilderte die Seereise und die Abenteuer, die er in Damaskus erleben werde, mit glühenden Worten. Und Giovanni hörte ihm zu. Es war wie früher, als sie auf den Steinstufen gesessen und im Angesicht der Lagune geträumt hatten: Nur Giannina war nicht bei ihnen.
Marco schüttelte verneinend den Kopf, als Giovanni fragte, ob sie die Freundin nicht einweihen sollten. «Du mußt das verstehen», sagte er, «einem einzigen Menschen habe ich es erzählt, und das bist du, Giovanni.»
Giovanni verstand den Freund und war so glücklich über das große Vertrauen und den Dolch, daß der Abschiedsschmerz gemildert wurde.
Erst wenn Marco mit dem Schiff auf dem weiten Meer schwamm, sollte Giovanni der Freundin von der Flucht Nachricht geben.
So wollte es Marco.
An dem Tage, da das zweite Geschwader zu seiner Reise aufbrechen sollte, regnete es. Die Lastträger verstauten, schimpfend über das schlechte Wetter, die letzten Waren. Messer Pietro Bocco stand mit dem Patrone des Schiffes am Kai und gab ihm Ratschläge. Dieser wehrte gelangweilt ab. Hundertmal schon hatte er die Ermahnungen gehört.
Der Kapitän des Schiffes stand mißmutig an Deck und trieb die Matrosen zu irgendwelchen unnötigen Arbeiten an, nur damit sie in den letzten Augenblicken nicht müßig herumstanden. Am liebsten hätte er gewartet, bis der Regen vorbei war, aber die Schiffe des zweiten Geschwaders mußten den Hafen verlassen, andere warteten schon darauf, abgefertigt zu werden.
Der Beamte der Ufficiale sopra Rialto, stolz den Degen tragend, ging an Bord, nachdem alles verladen war. Der Schreiber folgte ihm mit der Warenliste. Ein letztes Mal wurde überprüft, ob die Zollgebühren entrichtet, ob sich keine verbotene Ware an Bord befand, ob alle Vorschriften befolgt worden waren.
Marino sah die Beamten mit gemischten Gefühlen in den Laderaum steigen. Er hatte den Jungen unter großen Schwierigkeiten ungesehen auf das Schiff gebracht. Es würde ihm sehr leid tun, wenn sie ihn im letzten Augenblick noch erwischten.
Messer Pietro Bocco, der wenig Zeit hatte und auch nicht länger im Regen stehen wollte, ging zum Alten Rialto, wo ihn sein Secretario erwartete. Er war keinen Augenblick müßig und betrieb mehrere Geschäfte zur gleichen Zeit. In diesem Jahr hoffte er, ein tüchtiges Stück voranzukommen.
Marco saß mit seinen zwei Säckchen Biscotto in einer dunklen Ecke und wartete mit fieberhafter Ungeduld auf die Abfahrt des Schiffes. Er hatte tausend Ängste ausgestanden, als die Lastträger und Matrosen die letzten Waren verstauten. Die Holzkisten standen so dicht aneinander, daß keine Handbreit Zwischenraum war. Marco hatte sich am Ende des schmalen Mittelganges niedergelassen und hoffte, daß die Dunkelheit ihn verbergen würde.
Der Beamte, der das Schiff abfertigte, war stolz auf seine Stellung und sehr gewissenhaft, wenn der Patrone vergaß, ihm einige Dukaten zuzustecken. Mit klopfendem Herzen hörte Marco die Männer in den Laderaum herabsteigen. Ein Matrose leuchtete mit der Öllampe. Der Patrone erklärte auf Befragen, was sich in den einzelnen Kisten befand.